Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
77 Tage

77 Tage

Titel: 77 Tage
Autoren: Lucie Flebbe
Vom Netzwerk:
weiße Turnschuhe stand neben dem Regal. Hintereinander, der Besitzer hatte beim Ausziehen mit dem hinteren Schuh auf die Fersenkante des vorderen getreten und dann beide einfach stehen lassen. Machte ich auch so.
    Das hier war nicht der verwahrloste Haushalt, den Bella in ihrem Blog schilderte. Ich konnte durch den Flur in ein freundliches helles Wohn-Esszimmer mit Holzmöbeln sehen. Eine offene Treppe führte in die erste Etage hinauf. Unter den Stufen entdeckte ich einen Staubsauger. Ein Markengerät der Firma Miele. Das Kabel noch in der Steckdose.
    Mein Magen krampfte sich zusammen. Hielt sich Anna Willms tatsächlich für schlampig, fett und hässlich? Wie war es nur dazu gekommen?
    Und warum antwortete sie noch immer nicht?
    »Das Schlafzimmer ist oben.« Ich deutete auf die gebohnerten Holzstufen.
    »Steht im Blog, nehme ich an«, brummte Danner kopfschüttelnd.
    In Gedanken hatte ich Bella diese Treppe schon oft hinauf- und herunterbegleitet. Zurück zu der über sie lachenden Hochzeitsgesellschaft, nach oben vor ihren Computer – oder auf der Flucht vor dem wütenden Mario, um sich im Bad einzuschließen.
    Danner wandte sich der Treppe zu.
    »Hallo? Anna?«, rief er beim Hinaufsteigen.
    Ich folgte ihm. Auf halber Höhe hielt ich inne, weil Danner vor mir stehen geblieben war. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich registrierte, dass er gar nicht vorhatte, weiterzugehen.
    Ich trat neben ihn und blickte in die obere Etage.
    Sah eine offene Empore mit Geländer und Blick hinunter auf die orangefarbenen Gardinen vor der Terrassentür des Wohnzimmers. Tageslicht durch große Dachfenster. Laminat in Eichenoptik. Die Tür zum Badezimmer, einen Spalt weit geöffnet. Die Klinke aus dem Holz gebrochen. Dahinter blutige Handabdrücke auf weißen Fliesen.
    Meine Hände wanderten vor meinen Mund.
    Danner zog sein Handy aus der Jackentasche.
    Ich drängelte mich an ihm vorbei. Zum Badezimmer. Der Seifenduft vermischte sich mit einem stark metallischen Geruch, den sicher kein verrosteter Abfluss verursachte. Mein Puls donnerte in meinen Ohren.
    Der herausgebrochene Türgriff lag ein paar Meter entfernt auf dem Laminat im Flur. Vorsichtig drückte ich die Badezimmertür auf, bis etwas Schweres, Weiches sie bremste.
    Mein Puls machte einen Satz. Meine Augen glitten über die roten Handabdrücke auf den weißen Kacheln, schmierige Wischspuren, eine riesengroße, dunkelrote Lache, die in den Fugen der Fliesen weitergeronnen war bis an die Kante der Dusche und den Sockel des Klos. Noch nie hatte ich so viel Blut gesehen. Auf dem geschlossenen Klodeckel lag ein verschmiertes Brotmesser mit schwarzem Plastikgriff und Säge an der Schneide.
    Wertarbeit aus Solingen, registrierte mein Gehirn die Prägung im Messer, um sich nicht mit anderen Details beschäftigen zu müssen.
    Ich nahm meinen Mut zusammen und lugte um die halb offene Tür herum. Sah die roten Spritzer auf weißen Socken, die durchtränkte Jeans, das hochgerutschte, rechte Hosenbein. Eine feine, bläuliche Linie unter der blutverschmierten, weißen Haut am Schienbein. Eine Krampfader.
    Den Würgereflex spürte ich zu spät. Und das Klo war unerreichbar!
    Ich presste mir die Hände auf den Mund und rannte aus dem Bad, an Danner vorbei, zur Treppe.

35.
    »Zweiunddreißig war sie«, tuschelte ein Uniformierter, während er und sein Kollege den Tatort mit rot-weißem Flatterband großflächig absperrten.
    »Der Ehemann ist nicht auffindbar. Anscheinend wollte sie ihn verlassen.«
    Ich saß durchnässt vom kalten Frühlingsregen vor Anna Willms gepflegter Doppelhaushälfte auf der Motorhaube von Danners Schrottschüssel. Die Arme um die an den Bauch gezogenen Beine geschlungen, das Kinn auf den Knien, zitterte ich vor Kälte. Das Wasser tropfte aus meinen Haarfransen auf meine rot gefrorene Nase.
    Mir war schlecht, meine Gesichtsfarbe noch immer ungesund. Ich fühlte mich krank, als bekäme ich eine Grippe. Und mein Gehirn konnte die Eindrücke nicht schnell genug verarbeiten, alles drehte sich in meinem Kopf.
    Dabei war es gar nicht das viele Blut. Oder weil ich Anna Willms besonders gut gekannt hätte.
    Nein, vielmehr hatte ich sie nicht gut gekannt. Obwohl wir seit über zwei Wochen mit ihr zusammengearbeitet hatten, obwohl wir ihr gesamtes Team durchleuchtet hatten, war sie mir einfach nicht aufgefallen.
    Zugleich hatte ich mithilfe ihres Blogs in ihr Leben gesehen wie durch eine der verregneten Fensterscheiben in ihr Haus. Dicht dran und doch nur ein verschwommenes
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher