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Halloween

Halloween

Titel: Halloween
Autoren: Stewart O'Nan
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E twas B öses
     
    Na, hörst du das? Der Wind – wie er unter der Dachtraufe rauscht und die kahlen Bäume streift. Wie er heult, als wäre er Musik, eine Harmonie aus altem Gestöhn. Das Haus scheint zu atmen, klingt wie ein Kranker. Vergiss die lange Gruselfilmnacht; das hier ist besser als Fernsehen. Lass das Licht aus. Das blaue Leuchten folgt dir den Flur entlang. Geh in dem unbenutzten Zimmer ans Fenster, wo die Kälte durch die Scheibe dringt. Da ist der Mond, gefangen in den wippenden Zweigen. Das Bild fesselt dich, schwarze Bäume, von hinten beleuchtet, ein silberner Lichtstrahl, der auf die Veranda fällt und winkt. Dies ist eine Abenteuergeschichte, eine Einladung zum Wahnsinn (Verwandlung in einen Werwolf, Tanz mit dem Vampir), ganz natürlich und doch verboten, verlockend, etwas, das auch du noch im Blut hast.
    Bist du nicht gespannt?
    Willst du es nicht wissen?
    Na dann los, komm mit uns in die Nacht hinaus. Komm jetzt, du liebeskrankes Amerika, du ängstliches, seliges, gebildetes Amerika, komm, schleich durch die dunklen Seitenstraßen und stell dich vor die hell erleuchteten Häuser, ruhig wie ein Mörder im Garten, still wie ein Hirsch. Komm, du Schläfer, du Faulpelz, erwach aus deinem Schlaf und flieg über den verwilderten Wald.Komm, du Träumer, du Zombie, du Ungeheuer. Denn was tust du schon, Rechnungen bezahlen, das Geschirr spülen, auf das Klingeln an der Tür warten? Los, nimm deine Schlüssel, lass die Schüssel mit den Süßigkeiten auf der Veranda stehen, setz die erstickende Maske von jemand anderem auf und hol Luft. Sei ausnahmsweise jemand, den du nicht besonders leiden kannst. Hör zu: Genau wie die Kinder haben wir nur eine Nacht.
    Glaub mir, es macht Spaß. Wir lassen uns nicht erwischen. Es ist sowieso bloß ein Spiel, eine Maskerade. Wir sind in der Vorstadt; hier passiert doch nichts.
    Also komm, Freund, Fremder, Geliebter, Nachbar. Komm aus deinem behaglichen Zimmer mit dem Großbildfernseher, komm aus deinem warmen Haus in die kühle Nacht hinaus. Riech die nassen, zermatschten Blätter in der Einfahrt, die moderige Mischung aus Staub und Koriander in der Luft. Es ist die beste Zeit des Jahres, die einzige Jahreszeit, in der du etwas von uns und unserer malerischen Vergangenheit wissen willst – von Hexenjagden und dem Rauch von Holzfeuern, den urigen Namen der Toten auf moosbedeckten Friedhöfen. Ist doch unwichtig, dass all das längst vorbei ist, die weißen Palisadenzäune nur noch aus abwaschbarem Plastik, die Freundschaftsdecken genäht in der Dominikanischen Republik, das hier ist noch immer ein neues England, gartengrün, durchzogen von schwarzen Flüssen und Blutbädern.
    Komm mit, am letzten Stückchen Gehsteig vorbei, vorbei an den neuen Siedlungen mit ihren spärlichen Rasenflächen, vorbei an den Ladenzeilen der Ausfallstraßen mit dem Friendly’s, dem Chili’s und dem Gap, dem CVS, dem Starbucks und dem Blockbuster, dem KFC und dem Chinarestaurant, die Ladenschilder verlöschende Kometen in der Nacht, die Ampeln blinkende Lichter. Komm in die Stagecoach Lane, den Blueberry Way und den Old Mill Place, finde den Weg durch das Labyrinth der Vorstadthäuser, wo die letzten Kinder (schon zu alt, aber noch nicht bereit, erwachsen zu werden) wie Kommandotrupps aus Kleinbussenströmen und mit raschelnden Tüten über den Rasen zur Haustür stürmen. Hier gibt es echte Süßigkeiten, große Hershey-Riegel und doppelte Reese’s Cups. Nein, du hast keine Zeit anzuhalten, keinen Grund. Das ist längst vorbei, die glückliche Kindheit, die wir alle hätten haben sollen, die wir hatten und nicht zu schätzen wussten. Behalt deine Maske auf. Wenn du jetzt etwas sagst, verrätst du uns alle. Dafür sind wir zu alt, die grinsenden Kürbisse, die Treppen und gemütlichen Fenster, die nach uns greifenden Straßenlaternen liegen längst hinter uns. Hier draußen gibt es bloß schlammige Bäche und Marschland, Steinmauern, die brach liegendes Weideland schützen. Wenn man will, kann man sich hier noch immer verirren.
    Also fahr mit uns im Kreis durch die Nacht, die Bäume von den Scheinwerfern aufgeschreckt. Was, du erkennst die Straße nicht wieder, die sich in unübersichtlichen Kurven mit bröckelnden Banketten durch die Landschaft schlängelt, sodass wir uns vertraulich, ja gemütlich aneinander lehnen und jedes Mal lachen, wenn wir den außen Sitzenden gegen die verschlossene Tür quetschen? Denk an den Duft der Zigaretten, an die damit verbundenen kleinen Rituale. Form
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