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Halloween

Halloween

Titel: Halloween
Autoren: Stewart O'Nan
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Hochgeschwindigkeitsjagd», sagte er in belehrendem Ton, während er wie ein militärischer Ausbilder zwischen den Stühlen auf und ab ging, «spricht man, sobald das Tempo der geltenden Geschwindigkeitsbegrenzung überschritten wird.»
    Die vorgeschriebene Geschwindigkeit ist hier fünfundsechzig, aber bei dem neuen Straßenbelag fahren die Leute problemlos achtzig. Brooks fährt fünfundneunzig. Er will dem Cabrio keine Angst einjagen und geht zurück auf siebzig. Die Straße machteine Kurve, und die Straßenlaternen werden von Bäumen abgelöst, einem Felshang, auf dem ein heruntergekommener Wohnblock steht. Brooks beugt sich übers Lenkrad, kann den Wagen aber nirgends sehen; er fragt sich, wie sie es schaffen, etwas zu erkennen. Blätter trudeln vor ihm auf die Straße und werden von seinem Wagen aufgewirbelt.
    Vor dem Wald gibt es bloß noch eine Straße, die Country Club Road, und als er dort ankommt, ist nichts von ihnen zu sehen. Die Country Club Road ist voll gefährlicher Haarnadelkurven, und obwohl er da ein paar gute Verstecke kennt, entscheiden sich die Leute immer für den Wald – genau wie wir damals. (Wie Toe, sagt Danielle. Na klar, sagt Toe, als ob du die Country Club Road langgefahren wärst.) Und Toe hat nicht völlig Unrecht. Es ergibt einen Sinn; im Wald kann man sich verirren. Er gehört zum alten Scoville-Besitz, die Gebäude im Pseudo-Tudorstil mit Schieferdächern, selbst die kurvige Zufahrt landschaftlich so gestaltet, dass man an England denkt, Nebel in den Senken – echtes Werwolfgebiet. Wir hätten uns genauso entschieden.
    Man muss Brooks einfach mögen. Er weiß nicht genau, ob das Cabrio wirklich existiert oder was er eigentlich beweisen will, aber er weiß, dass es falsch ist, aufzugeben. (Toe kann das Holster von dem Haken im Wandschrank stoßen, und trotzdem versteht Brooks die Botschaft nicht.) Er fühlt sich verantwortlich, deshalb fährt er an der Country Club Road vorbei, vorbei an der neu gestrichenen Remise und zwischen den alten Backsteinsäulen mit den zerbrochenen Gaslaternen durch, und seine Scheinwerfer gleiten zitternd über die dünne Straßendecke.
    Hier kann er nicht rasen, denn es ist ziemlich kurvig. Er hat gesehen, was diese Kurven anrichten können, und fährt nicht schneller als fünfzig. Er hat das Gefühl, als würde er schleichen. Er weiß, dass er das Cabrio nicht einholen wird, dass es bloß eine Sinnestäuschung war (denn er sieht inzwischen Gespenster, spürt, dass Augen hinter den Bäumen vorschauen). In jeder Kurvestellt er sich vor, dass er uns wieder sieht, die Version dieses Jahres, das Cabrio auf seinem dünnen Dach neben der Straße, die Zweige weiß im Scheinwerferlicht, das Radio an, ein Reifen, der sich noch dreht, als wäre das Ganze ein Kinofilm.
    Aber es ist noch nicht die richtige Nacht, denkt er und klammert sich daran wie an eine Vorschrift. (Siehst du, das hat ihm keiner gesagt. Er weiß alles, als hätte er übersinnliche Kräfte.)
    Sollten wir ein Eichhörnchen über die Straße huschen, den weißen Bauchfleck eines Hirschs vor ihm auftauchen lassen?
    Das ist nicht nötig. Irgendwie weiß er, was er hier tut, warum er nach Mitternacht als Erstes zu dem einzigen Ort fährt, an dem er wirklich nicht sein sollte. Wenn unsere Eltern oder der Polizeichef ihn sehen könnten, würde er gefeuert werden, einen Tritt in den Arsch kriegen, und dass Melissa zurückkommt, könnte er dann auch vergessen.
    Der Gedanke ist ernüchternd, und Brooks fährt langsamer. Das Cabrio ist längst verschwunden, als er in die Kurve geht und die Steigung rauffährt, in der wir durch die Luft geflogen sind. Die Schnauze des Vic hebt und senkt sich, kommt wieder in die Waagerechte, und da steht der Baum plötzlich mitten im Scheinwerferlicht, die modrigen Erinnerungen halb unter den Blättern begraben. Unser Baum. Tims. Seiner.
    Brooks hält an. Das ist kein Schuldeingeständnis. Es ist nicht das erste Mal seit dem Unfall, dass er den Baum sieht. Avon ist nicht besonders groß; im Stadtgebiet gibt es nur wenige Straßen. Auf dem Weg zu einem Code 3 ist er sogar mal mit Blaulicht zu schnell in die Kurve gegangen, aber der Vic ist schwer, und seine Reifen sind neu. Brooks ist ein guter Fahrer; er wird nicht bei einem Autounfall sterben. (Damit will ich gar nichts sagen, Toe. Halt einfach die Klappe und lass mich erzählen, okay?)
    Brooks sitzt mit dem Fuß auf der Bremse da, im Scheinwerferlicht schwebt eine vom Wind verwehte Abgaswolke hoch. Wenn er ausstiege,
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