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Halloween

Halloween

Titel: Halloween
Autoren: Stewart O'Nan
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aus zwei Fingern eine Schere und schnorr eine Zigarette, ist schon okay, aber steck ja nicht mein Feuerzeug ein. Die Musik ist zu laut, als dass man sich unterhalten könnte, aber es besteht auch kein Grund dazu, wir sind glücklich, umschlossen von unserem Innern und der Nacht, der Illusion von Unendlichkeit – Highschool, die Freiheit des Fahrens. Sei wieder siebzehn und bereit, dich von der Welt lieben zu lassen. Spür durch den Wagenboden die Geschwindigkeit, spür, wie die Luft an den Fenstern entlangrauscht. Wir schneiden die Kurven, überqueren die gelbe Linie, springen über Bodenwellen. Ein Hirsch wäre unser Ende, doch der Fahrer fährt bloß noch schneller, der Wald ist dunkel wie das Weltall, noch immer eine Wildnis.
    Sieh dich jetzt um. Kannst du dich an irgendeinen von unserinnern? Dein Gesicht hat sich verändert; unsere sehen noch genauso aus, erstarrt auf Jahrbuchfotos in der Lokalzeitung, neben den neuesten Bekanntmachungen der Schulbehörde, den Footballergebnissen, dem Ramschverkauf der Bücherei. Eine Woche lang sind wir berühmt – Götter, die den Märtyrertod starben –, dann vergessen. Du hast keine Ahnung, wie wir heißen (das sind doch diese Jugendlichen, die ums Leben gekommen sind), aber du weißt noch, was passiert ist. Also weißt du auch, wohin wir jetzt fahren.
    Hast du es gesehen? Nicht bloß im Vorbeifahren, sondern hast du gehalten, bist ausgestiegen und hast dir die zerfetzten Schleifen und Bänder, die schlaffen Luftballons und grün verfärbten Bilder in den Gefrierbeuteln, die Plastikkreuze und verwelkten Blumen, die längst unleserlichen Zettel in Mädchenhandschrift angesehen, all die Versprechen, sich ewig an uns zu erinnern? Hast du den Baumstamm auf Schrammen untersucht und dich über die Natur gewundert, weil keine zu sehen waren?
    Natürlich nicht. Selbst wenn du hier aus der Gegend wärst, hättest du dich längst daran gewöhnt, würdest dich vielleicht sogar über die Karten und Blumen, über die schamlose Rührseligkeit der Jugend ärgern. Keine Sorge, sie bringen die Schule hinter sich und ziehen dann weg, wie danach auch unsere jüngeren Geschwister, sie gehen aufs College, nehmen Jobs an, heiraten und verlassen unsere Eltern, eine Mutter, die sich der Wohltätigkeit widmet, und einen Vater, der sich in sich selbst zurückzieht und sonderbar wird. Der eine wird verbittert, der andere entdeckt die Religion. Verwandeln sie sich in Winterflüchtige in geschmackloser Polyesterkleidung, oder lassen sie das Haus verfallen? Egal. Jeder vergisst irgendwann – das muss so sein, stimmt’s? Beweist das nicht, dass die Zeit gnädig ist?
    Antworte nicht. Du hast später noch Zeit, darüber nachzudenken – eine ganze Nacht, eine Ewigkeit. Halloween ist nur einmal im Jahr.
    Kannst du unter der Maske da atmen? Ist doch nicht zu heiß, oder?
    Schau, wir sind schon fast da, wo die Kurve sich der Kreuzung nähert. Kein anderer Wagen im Spiel, kein dummer Zufall, bloß der Baum, die rutschigen nassen Blätter auf der Straße, der Zauber der Geschwindigkeit. Die Jahreszeit ist es, die uns umbringt, die fehlende Haftung in Verbindung mit einem leichten, zentrifugalen Seitwärtsdrall. Die Polizisten werden die Abstände mit einem schlaffen Maßband abschreiten und alles rekonstruieren (da neben dem roten X liegt mein Feuerzeug), sie werden die Aussagen der Beteiligten aufnehmen und den langen Bericht für die Gerichte und die Versicherungsgesellschaften fotokopieren. Jemand, den du liebst, hat ihn gelesen oder auch nicht, der Inhalt ist lebensverändernd und zugleich unbedeutend, das Geld wird gespart oder ausgegeben.
    Vom Rücksitz aus kannst du den Baum nicht sehen oder erst im letzten Moment, falls du vor Angst ständig Anweisungen gibst («Fahr
langsamer
»)
.
Es kommt der Augenblick, in dem uns klar wird, dass wir die Kurve nicht schaffen – uns allen, auch den Optimisten. Das stetige Geräusch der Straße verschwindet jäh, wird in schwarze Stille gesaugt. Von dem Baumstamm strahlt Licht zurück, als hätte er aufgeblendet, um uns im letzten Moment zu warnen. Es ist wirklich eine Mutprobe.
    «O
Scheiße »
, sagt Danielle; du spürst es, weil sie auf deinem Schoß sitzt und du die Arme um ihren Brustkorb, ihren schmalen, parfümierten Körper gelegt hast.
    «Toe, du Arsch» – Kyle, direkt neben dir. (Wer? Toe, Kyle, Danielle. Siehst du, du hast schon alles vergessen. Wie heiße ich? Und du?)
    Es ist eine Täuschung, aber der Baum scheint vorzuspringen, scheint direkt auf
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