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Im Schwarm - Ansichten des Digitalen

Im Schwarm - Ansichten des Digitalen

Titel: Im Schwarm - Ansichten des Digitalen
Autoren: Byung-Chul Han
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OHNE RESPEKT
    Respekt heißt wörtlich Zurückblicken. Er ist eine Rücksicht. Im respektvollen Umgang mit anderen hält man sich zurück mit neugierigem Hinsehen. Der Respekt setzt einen distanzierten Blick, ein Pathos der Distanz voraus. Heute weicht er einer distanzlosen Schau, die charakteristisch ist für das Spektakel. Das lateinische Verb spectare, worauf Spektakel zurückgeht, ist ein voyeuristisches Hinsehen, dem die distanzierte Rücksicht, der Respekt  ( respectare) fehlt. Die Distanz unterscheidet das respectare vom spectare. Eine Gesellschaft ohne Respekt, ohne Pathos der Distanz führt in die Skandalgesellschaft.
     
    Der Respekt bildet den Grundstein für Öffentlichkeit. Wo er schwindet, verfällt sie. Der Verfall der Öffentlichkeit und die wachsende Respektlosigkeit bedingen einander. Die Öffentlichkeit setzt unter anderem ein respektgeleitetes Wegsehen vom Privaten voraus. Die Distanznahme ist konstitutiv für den öffentlichen Raum. Heute herrscht dagegen eine totale Distanzlosigkeit, in der die Intimität öffentlich ausgestellt wird und das Private öffentlich wird. Ohne Ab-Stand ist auch kein An-Stand möglich. Auch der Ver-Stand setzt einen distanzierten Blick voraus. Die digitale Kommunikation baut allgemein Distanzen ab. Der Abbau räumlicher Distanzen geht mit der Erosion mentaler Distanzen einher. Die Medialität des Digitalen ist dem Respekt abträglich. Es ist gerade die Technik der Isolierung und Abtrennung wie beim Adyton, 2 die Ehrfurcht und Bewunderung generiert.
     
    Die fehlende Distanz führt dazu, dass sich das Öffentliche und das Private vermischen. Die digitale Kommunikation fördert diese pornografische Ausstellung der Intimität und Privatsphäre. Auch die sozialen Netzwerke erweisen sich als Ausstellungsräume des Privaten. Das digitale Medium als solches privatisiert die Kommunikation, indem es die Produktion von Information vom Öffentlichen ins Private verlagert. Roland Barthes definiert die Privatsphäre als »jene Sphäre von Raum, von Zeit, wo ich kein Bild, kein Objekt bin«. 3 So gesehen hätten wir heute gar keine Privatsphäre mehr, denn es gibt nun keine Sphäre, wo ich kein Bild wäre, wo es keine Kamera gäbe. Das Google Glass verwandelt das menschliche Auge selbst in eine Kamera. Das Auge selbst macht Bilder. So ist keine Privatsphäre mehr möglich. Der herrschende ikonisch-pornografische Zwang schafft sie komplett ab.
     
    Der Respekt ist an den Namen gebunden. Anonymität und Respekt schließen einander aus. Die anonyme Kommunikation, die durch das digitale Medium gefördert wird, baut den Respekt massiv ab. Sie ist mitverantwortlich für die sich ausbreitende Kultur der Indiskretion und Respektlosigkeit. Auch der Shitstorm ist anonym. Darin besteht seine Gewalt. Name und Respekt sind aneinander gekoppelt. Der Name ist die Basis der Anerkennung, die immer namentlich erfolgt. An die Namentlichkeit sind auch solche Praktiken wie Verantwortung, Vertrauen oder Versprechen gebunden. Das Vertrauen lässt sich als ein Glaube an den Namen definieren. Verantwortung und Versprechen sind auch ein namentlicher Akt. Das digitale Medium, das die Botschaft vom Boten, die Nachricht vom Sender trennt, vernichtet den Namen.
     
    Der Shitstorm hat vielfältige Ursachen. Er ist möglich in einer Kultur der Respektlosigkeit und Indiskretion. Er ist vor allem ein genuines Phänomen digitaler Kommunikation. So unterscheidet er sich grundsätzlich von den Leserbriefen, die an das analoge Schriftmedium gebunden sind und ausdrücklich namentlich erfolgen. Anonyme Leserbriefe landen schnell im Papierkorb von Zeitungsredaktionen. Und eine andere Zeitlichkeit zeichnet den Leserbrief aus. Während man ihn mühsam handschriftlich oder maschinell verfasst, ist die unmittelbare Erregung bereits verflogen. Die digitale Kommunikation macht dagegen eine sofortige Affektabfuhr möglich. Schon aufgrund ihrer Zeitlichkeit transportiert sie mehr Affekte als die analoge Kommunikation. Das digitale Medium ist in dieser Hinsicht ein Affektmedium.
     
    Die digitale Vernetzung begünstigt die symmetrische Kommunikation. Die Kommunikationsteilnehmer konsumieren die Informationen heute nicht einfach nur passiv, sondern generieren sie selbst aktiv. Keine eindeutige Hierarchie trennt den Sender vom Empfänger. Jeder ist Sender und Empfänger, Konsument und Produzent zugleich. Eine solche Symmetrie ist aber der Macht abträglich. Die Machtkommunikation verläuft in einer Richtung, nämlich von oben nach
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