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Der Jünger

Der Jünger

Titel: Der Jünger
Autoren: Sharon Sala
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PROLOG
    I ch kratze ab. Keiner spricht es aus, aber ich höre es an ihrem Tonfall. Sie werfen einen Blick auf meine Krankenakte und sehen dann weg. Oh, bitte, bitte, lasst mich nicht sterben!
    Jay Carpenters Stimme war nicht zu hören, und auch seine Panik merkte man ihm nicht an. Das Letzte, woran er sich noch erinnerte, war, wie er einem seiner Mädchen eine Ohrfeige verpasste, weil sie ihm Geld unterschlagen hatte. Seit über sechs Jahren ließ er mehr als ein Dutzend Frauen für sich anschaffen, und egal wie sorgfältig er sie auch auswählte, es gab immer eine darunter, die Mist baute.
    Er erinnerte sich noch, wie seine Handfläche klatschend auf ihrem Gesicht landete. Dann hatte er plötzlich einen stechenden Schmerz hinter seinem rechten Ohr gespürt. Danach hatte sich alles um ihn herum gedreht. Ganz vage hörte er noch ihr Kreischen und wie jemand “Ruf einen Krankenwagen!” schrie. Dann war ihm schwarz vor Augen geworden.
    Jetzt wusste er nur, dass er sich in einem Krankenhaus befand und dass ihm ein Gehirntumor herausoperiert worden war. Er wusste, dass sein Fieber einfach nicht sinken wollte, und er verspürte eine große Hoffnungslosigkeit.
    Alice Presley arbeitete nun schon seit über siebzehn Jahren als Krankenschwester. In dieser Zeit hatte sie Hunderte von Patienten gepflegt. Sie bezeichnete sich selbst als “alten Hasen” in diesem Job und hatte oft behauptet, schon alles gesehen zu haben. Doch das war, bevor sie den Mann in Bett 315 B eingeliefert hatten. Trotz seiner Bewusstlosigkeit behielt sie ihn vorsichtshalber im Blick, während sie ihn wusch. Sie hatte sich seine Krankenakte so oft durchgelesen, dass sie seine Geschichte auswendig kannte.
    Er hieß Jay Carpenter – ein Zuhälter in den Vierzigern, der in seinem Apartment ohnmächtig geworden war und mit Halluzinationen eingewiesen wurde.
    Die erste Diagnose, dass es sich um eine Überdosis handelte, wurde revidiert, nachdem die Ärzte einen Tumor gefunden hatten, der auf die Hirnanhangdrüse und Teile des Gehirns drückte.
    Er war operiert worden, jedoch erfolglos. Die Ärzte hatten nur einen Teil des Tumors entfernen können.
    Jay Carpenter litt unter anhaltendem Fieber und verlor immer wieder das Bewusstsein.
    Von den zahlreichen anderen Patienten, die Alice versorgt hatte, unterschied sich dieser nur dadurch, dass er ihr Angst einjagte, wenn er zu sich kam.
    Seine Augen waren so dunkel, dass sie fast schwarz aussahen. Und er roch so merkwürdig nach Leichenschauhaus, egal wie oft sie ihn badete. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie glatt meinen, er sei schon tot.
    Kaum ging ihr der Gedanke durch den Kopf, als er erneut kollabierte. Ohne Zeit zu verlieren, drückte sie den Alarmknopf und begann mit den Wiederbelebungsmaßnahmen.
    Schwestern stürzten mit einem Crash Cart herein, hinter ihnen zwei Ärzte, die gerade auf der Etage ihre Visite gemacht hatten. Sie waren bereits aufeinander eingespielt und bemühten sich mit routinierten Handgriffen um den Patienten, obwohl es schien, als sei es bereits zu spät.
    Nein, nein, nein! Noch nicht! Nicht auf diese Art!
    Jay Carpenter tat seinen letzten Atemzug, während gleichzeitig seine Seele den Körper verließ. Es war überhaupt nicht so, wie er erwartet hatte. Kein verzweifeltes Luftschnappen, lediglich das Ende der Schmerzen. Einen kurzen Augenblick schwebte er über seinem Körper und blickte darauf zurück, und dann wurde er von einer unglaublichen, nie erlebten Macht nach unten gezogen – so jedenfalls erlebte er es. Schwerkraft existierte hier nicht. Es war wie beim Abwärtsrasen in einer riesigen Achterbahn. Licht umfing ihn und badete ihn auf nicht gekannte Weise in Wärme und Liebe. Was er sich als Kind immer sehnsüchtig gewünscht hatte und was ihm auch als Erwachsener verwehrt geblieben war: Liebe und Anerkennung, zwei Dinge, von denen er nie geglaubt hätte, dass sie existierten. Alles fühlte sich vollkommen an. Doch dieses Gefühl endete genauso unvermittelt, wie es begonnen hatte. Das Licht, von dem er gewärmt worden war, verblasste. Dies wurde ihm jedoch erst richtig klar, als die unendliche Freude in seinem Herzen von einer überwältigenden Hoffnungslosigkeit verdrängt wurde.
    Die Luft vibrierte von unzähligen Stimmen und von dem wirren Durcheinander panischer Schreie. Der Lärm traf ihn wie ein stechender Schmerz, als würde sein irdischer Körper mit einem spitzen Messer gemartert. Jetzt war auch der letzte Rest von Wärme und Liebe verschwunden und hatte
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