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77 Tage

77 Tage

Titel: 77 Tage
Autoren: Lucie Flebbe
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überdurchschnittlich oft vorkam. Womöglich hatte mein Vater extra einen Polizeibeamten abgestellt, der sämtliche Meldungen regelmäßig prüfte. Dazu war er imstande, zweifellos. Wie eine eisige Hand griff mir ein Schauer in den Nacken. Unwillkürlich zog ich die Schultern hoch.
    Unmöglich war ein Anruf meines Vaters nicht.
    Das hätte ich wissen müssen, als ich mich gemeldet hatte. Vermutlich hatte ich es gewusst. Vielleicht hatte ich es sogar darauf angelegt. Ihm den Kampf erklärt, damit das Versteckspiel endlich ein Ende hatte? Weil ich es satthatte, davonzulaufen?
    Dabei war ich noch lange nicht stark genug für einen Krieg. Das war mir jetzt klar, denn allein der Gedanke, dass ich wirklich die Stimme meines Vaters gehört haben könnte, ließ meine Hände beben. Hinter meinem Rücken verschränkte ich die Finger, damit mein Zittern nicht auffiel.
    Ich würde nicht zulassen, dass mich meine Vergangenheit von meinem Job ablenkte. Ich zwang meine Aufmerksamkeit zurück zu der verärgerten Blondine.
    Zwei ältere Frauen, die der Aufgebrezelten gegenüberstanden, senkten schuldbewusst den Kopf. Beide trugen weiße Blusen und graue Haare. Die eine lang und dünn, die andere klein und pummelig, wirkten sie, wie einem witzigen Schwarz-Weiß-Film entstiegen.
    »Früchtetee mit Zucker und Zitrone …«, gestand die Lange kleinlaut. »Erinnert sie immer an die Arbeit im Kirchenkreis.« Sie sprach undeutlich, verwaschen. Als hätte sie getrunken.
    »Mann, Hedi!«, brauste die Hochleistungsblondierte auf. »Andere müssen ihre Kinder pünktlich aus der Kita holen, mit dem Hund Gassi gehen oder wollen in ihrer Freizeit einfach lieber in der Nase bohren.«
    »Das haben wir doch schon hundert Mal ausdiskutiert, Leute«, versuchte eine vierte Frau zu beschwichtigen. Sie hatte ihr Haar streng nach hinten gebunden. Besonnen und trotz Sommersprossen ungeschminkt war sie der lebende Gegensatz zu der motzenden Blonden. »Für den Tee hat jeder von euch die halbe Stunde Luft im Plan. Und Agi und Hedi erklären doch den Patienten immer, dass nicht alle Kolleginnen unbezahlte Überstunden machen können …«, ihr wacher Blick schnellte zu den beiden älteren Mitarbeiterinnen hinüber, »… nicht wahr?«
    Ich musste schmunzeln, weil der scharfe Ton keine Wahl der Antwort zuließ. Die große Dünne und die kleine Pummelige nickten artig und synchron.
    Elsbeth van Pels räusperte sich deutlich und beendete damit die Diskussion. Acht Frauen und zwei Männer drehten ihren Kopf in unsere Richtung.
    Showtime.
    Das Gesicht der Blondierten färbte sich pink, passend zu ihrem Lippenstift, den Fingernägeln und dem Shirt, das unter ihrer Kittelbluse hervorblitzte.
    »Meine Damen und Herren, darf ich Ihnen Ben Danner und Liliana Ziegler vorstellen? Die beiden sollen als Pflegehelfer eingesetzt werden und werden deshalb eine Zeit lang bei jedem von Ihnen mitfahren.«
    Die Blasse, die eben zu vermitteln versucht hatte, erhob sich. Wie die anderen Frauen trug sie eine weiße Kittelbluse. Die Dinger waren verwaschen und nicht besonders vorteilhaft geschnitten. Und bis zum Stehkragen hochgeschlossen wirkte das Teil altbacken. Außerdem machte das Weiß die Frau noch blasser, als sie sowieso schon war, mit ihrer hellen Haut, den blonden Wimpern, Brauen und Haaren. Ein bisschen Wimperntusche hätte Wunder vollbracht.
    »Anna Willms ist die Teamleiterin«, stellte Elsbeth van Pels die Frau vor. »Sie wird Sie mit den anderen bekannt machen und alles Weitere erklären.«
    Anna Willms schob ihre randlose Brille hoch, bevor sie Danner und mir die Hand reichte.
    »Wir sind hier alle per Du, ist das in Ordnung für euch?«
    Sie sagte das, als ob wir die Wahl hätten, und wartete sogar die Antwort ab.
    »Klar«, nickte Danner.
    Fand ich auch.
    »Wir haben gerade Dienstbesprechung. Die ist montags nach der Frühschicht. Heute sind sogar alle da.«
    Was wahrscheinlich so selten vorkam, dass es gar nicht vorgesehen war. Denn der kleine Kellerraum, in dem Danner und ich mittendrin standen, war eher Büro als Besprechungsraum. Weil sich so viele Menschen hineingequetscht hatten, roch es nach Schweiß. Und Kölnisch Wasser. Irgendwer hatte sich schlimmer eingedieselt als Danner.
    Die Frauen und Männer saßen auf allem, was das Gewicht eines Menschen voraussichtlich aushalten würde: ein drehbarer Bürostuhl mit Lehne, einer ohne, ein umgedrehter Papierkorb und eine Plastikfußbank, die wohl eigentlich als Tritt für das mit Akten gefüllte Regal diente. Agi
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