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77 Tage

77 Tage

Titel: 77 Tage
Autoren: Lucie Flebbe
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alten Damen spazieren.
    Das stimmt zum Teil sogar. Weil ich meine Arbeit gut mache. Meine Tour ist so geplant, dass Luft bleibt. Um mal mit einer einsamen Oma einen Kaffee zu trinken. Oder die Fotoalben der Enkelkinder zu bestaunen. Und seit Zeitarbeiter die wegrationalisierten Zivis ersetzen, bricht selbst im Krankheitsfall kein Stress aus.
    Die Sonne und der Job ergeben zusammen einen ziemlich guten Montag.

4.
    »Die Damen links, die Herren rechts.« Mit einer galanten Verbeugung ließ Ingo Kuchenbecker Hedi und mir den Vortritt.
    »Dann musst du aber mit uns kommen, Schätzeken«, alberte Hedi mit Kuchenbecker herum. Eine Anspielung auf seine Vorliebe für Make-up, die ich Hedi im Hinblick auf ihre altertümliche Fönfrisur gar nicht zugetraut hätte.
    Kuchenbecker warf ihr eine Kusshand zu. Den Pfleger schien die verschwommene Aussprache der Älteren nicht zu stören. Dabei wollte sie gleich in ein Auto steigen, wenn ich das richtig verstanden hatte.
    Mit mir, fiel mir ein.
    War ihr Lallen am Ende gar nicht die Folge von Alkohol im Dienst, sondern nur ein Sprachfehler?
    Hedi führte mich nach links in die Damenumkleide, während Danner und Kuchenbecker nach rechts verschwanden.
    Unter dem Türrahmen duckte sich Hedi. Verwundert bemerkte ich, dass sie aufrecht stehend tatsächlich nicht hindurchgepasst hätte. Hedi Sundermann schien eine optische Täuschung zu sein, sie kam mir kleiner vor, als sie war.
    Sie hatte die gebeugte Haltung großer Menschen, die es gewohnt waren, sich ständig bücken zu müssen. Ihre Schultern waren nach vorn gesackt und der obere Bereich ihres Rückens hatte sich gekrümmt, sodass sich die Kittelbluse über den Wirbelknochen zwischen ihren Schulterblättern spannte. Außerdem kippte sie beinahe ständig das Becken nach rechts, den Kopf nach links. Ihre Wirbelsäule verbog sich s-förmig.
    Und sie war die Person, die den Parfümgeschmack meiner verstorbenen Oma teilte. 4711 – Echt Kölnisch Wasser. Jetzt, wo ich mich allein mit Hedi in der engen Umkleide befand, war ein Irrtum ausgeschlossen.
    »Der letzte Spind da ist noch frei.« Hedi deutete auf die zahlreichen schmalen Türen eines Blechschrankes. In der hintersten steckte ein Schlüssel. Die Pflegerin selbst trat an ein Regal, in dem weiße Kleidung gestapelt lag. »Weiße Dienstkleidung ist eigentlich out. Die meisten Pflegedienste arbeiten heute in Zivil, das ist diskreter. Aber die van Pels ist noch vom alten Schlag, die lässt sich zumindest von der weißen Oberbekleidung nicht abbringen. Größe achtunddreißig?«
    »Passt schon.« Ich knüllte meinen schlabberigen Wollpulli in den Schrank.
    »Deine Jacke kannst du dann drüberziehen.«
    Ich zog die weiße Kittelbluse, die Hedi mir hinhielt, über mein lila T-Shirt, dessen überlanger Saum darunter hervorragte. Am Bauch schlabberte die Bluse, während ich mich oben am steif gebügelten Stehkragen zugeknöpft fühlte, als hätte man mir nach einem Schleudertrauma eine Halskrause verpasst. Ich öffnete zwei Knöpfe und klappte den Kragen zur Seite. So konnte ich zumindest den Kopf bewegen.
    »Warst du schon mal in der Pflege?«, wollte Hedi wissen.
    Ich ging mal davon aus, dass sie sich nach meiner Berufserfahrung erkundigte, nicht nach meiner eigenen Pflegebedürftigkeit.
    »Nö.«
    Ich bildete mir ein, sie einatmen zu hören.
    »Hast du Großeltern, Onkel, Tante im Altenheim?«
    »Früher mal.« Aber daran konnte ich mich kaum erinnern, als Berufserfahrung zählte das nicht.
    »Du weißt aber, dass wir ganz schön zupacken müssen?« Hedis skeptischer Blick hing an meinen nicht gerade muskelbepackten Armen.
    Ich musterte die große Frau nachdenklich. Sie hatte sich nicht sonderlich gut gehalten. Sie war ungeschminkt und ihr Gesicht ließ vermuten, sie hatte das arbeitsfähige Alter längst hinter sich. Die äußeren Winkel ihrer blassgrauen Augen standen tiefer als die inneren. Es sah aus, als ob ihre Augen herunterhingen. Genau wie die Mundwinkel, der verkrümmte Rücken und die langen Arme. Bei genauer Betrachtung wirkte Hedi sehr kraftlos. Das Leben und bestimmt auch die Arbeit hatten Spuren an ihrem Körper hinterlassen.
    Allerdings schien sie wach und keineswegs betrunken, wie ihre undeutliche Aussprache vermuten ließ. Es musste sich um einen Sprachfehler handeln. Nur ihr kopfschmerzverursachend übertriebener Duftwassergebrauch ließ mich zweifeln. Wozu der Gestank, wenn sie damit keine Alkoholfahne überdecken wollte?
    »Will den Job außer mir echt keiner
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