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77 Tage

77 Tage

Titel: 77 Tage
Autoren: Lucie Flebbe
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bezahlt?«
    »Komm runter, Scheißstrippenzieher, und es gibt was aufs Maul!«
    Privat habe ich Mario anders kennengelernt.
    Im Krankenhaus hat er mir Blumen an den Spind gesteckt. Mich mit einem Eisbecher in der Mittagspause überrascht. Er hat Rollstühle geschoben. Tena Lady – Bigpacks geschleppt. Und er hat mir Liebesbriefchen an die Vespa geklemmt. Doch dann war der Zivildienst zu Ende. Mario betrat wieder eine Baustelle. Zeitgleich verdrängte er, was eine Tena Lady ist.
    Na ja, hab ich damals gedacht. Unter Handwerkern herrscht eben ein rauer Ton.
    Einen solchen Ton hatte ich vorher nie kennengelernt. Wahrscheinlich ein Grund für mein Entsetzen. Bis zu ihrer Scheidung haben meine Eltern nicht miteinander gestritten.
    Probleme? Wurden ruhig und sachlich gelöst. Bei uns wurde diskutiert. Debattiert. Leider zählte Schlagfertigkeit nie zu meinen Stärken. Zu denen meiner Mutter schon.
    Irgendwann hab ich’s aufgegeben. Und war einfach artig. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr habe ich mich nicht getraut, ›scheiße‹ zu sagen. Genau genommen benutze ich Kraftausdrücke bis heute nicht. Höchstens in Ausnahmefällen. Und dann werde ich rot dabei. Immer noch.
    Ich bin schon lange keine Schwesternschülerin mehr. Und auch Mario hat sich weiterentwickelt. In der Abendschule hat er seinen Meister gemacht. Mittlerweile ist er Vorarbeiter. Auf den Baustellen hat er das Kommando. Befehligt Gesellen und Lehrlinge. Was aber keineswegs heißt, dass sich sein Umgangston geändert hat. Im Gegenteil. Heute schnauzt er die Leute offiziell an. Mit Genehmigung.
    Ich schätze den Tonfall auch heute noch nicht.
    Das wollte ich einfach mal loswerden.

5.
    »Viele der Dinge, die du heute siehst, werden auf deiner eigenen Tour später nicht vorkommen. Ich bin Gesundheits- und Krankenpflegerin. Drei Jahre Ausbildung und eine staatliche Prüfung brauchst du, damit du dich so nennen darfst. Erst dann zählst du zu den ›Examinierten‹. Pflegehelfer sind immer ungelernt, wie du.«
    Vom Beifahrersitz aus hatte ich den winzigen hautfarbenen Apparat entdeckt, der beinahe unsichtbar unter den grauen Haarwellen hinter dem Ohr der Gesundheits- und Krankenpflegerin klemmte. Ein Hörgerät. Hedi Sundermann war schwerhörig. Weil sie weder ihre eigenen Worte noch die anderer Menschen klar verstand, war ihre Aussprache im Laufe der Jahre verwaschen – oder vielleicht auch schon von Beginn an so gewesen. Deshalb hielt sie möglicherweise auch den Kopf so stark zur Seite geneigt.
    Ich war erleichtert, dass das Auto, in dem ich saß, nicht von einer Vollstrammen gesteuert wurde. Und mittlerweile hatte ich mich so an ihre Aussprache gewöhnt, dass sie mir kaum noch auffiel.
    Deutlich mehr störte mich ihr beißendes Oma-Parfüm. Eine Alkoholfahne schloss ich inzwischen als Grund für die süßliche Duftwolke aus. Aber was war es dann? Fehlender Geruchssinn? Ein Schweißproblem? Oder einfach Geschmacksverirrung?
    Hedi lenkte den Dienstwagen, einen sonnengelben Polo mit orangefarbener Beschriftung, durch die Innenstadt.
    »Als staatlich geprüfte Krankenschwester gebe ich auch Spritzen, wechsele Verbände und so weiter. Die Pflegehelfer brauchen die Patienten natürlich nicht medizinisch zu versorgen.«
    Aha. Deshalb wurde ständig zwischen sogenannten Examinierten und Pflegehelfern unterschieden.
    »Anna stellt dir eine Tour zusammen, bei der es nur um die Grundpflege geht. Du unterstützt die Klienten bei alltäglichen Verrichtungen wie Waschen, Wickeln, Anziehen oder Essen.«
    Ups. Ich horchte auf.
    Ich musste gestehen, dass mir, als Hedi das Wort ›wickeln‹ verwendete, das erste Mal bewusst wurde, worauf ich mich eingelassen hatte.
    Während Danner von Anfang an weitergedacht haben musste. Im Gegensatz zu mir war ihm offenbar sofort klar gewesen, was es bedeutete, undercover in der Pflege zu ermitteln. Das war eine plausible Begründung, warum sich seine Motivation bei einem derart lukrativen Auftrag in überschaubaren Grenzen gehalten hatte.
    Ich atmete tief ein.
    Jetzt war es zu spät, wir steckten mittendrin in dem Job. Ich konnte nicht mehr kneifen, wenn ich nicht als totaler Trottel dastehen wollte. Da war ich ja mal wieder mit Anlauf in die Scheiße gesprungen.
    »Manchmal hat auch der pflegende Angehörige etwas zu erledigen, der Pflegebedürftige kann aber nicht allein gelassen werden. Dann passt du einfach nur auf, liest dem Klienten etwas vor oder gehst mit ihm spazieren.«
    Ja, genau. So was wollte ich machen, bitte.
    Hedi
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