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Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Titel: Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
Autoren: Peter Ustinov
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fröhlichen Aspekt der Wahrheit, den wir noch etwas fröhlicher ausschmücken könnten?«
    »Noch nicht. Man hat ihn nach Madrid gebracht. Zur Zeit gibt es nur zwei albanische Flüchtlinge in Spanien, und beide werden von der Polizei als politisch unzuverlässig eingestuft. Was die Frage betrifft, wieso der Albaner in unseren Hoheitsgewässern schwamm, tappen wir noch immer völlig im dunkeln. Wir haben keine diplomatischen Beziehungen mit Albanien, darum sind wir auf die Schweiz angewiesen, um ihn dorthin zu bringen, woher er gekommen ist. Außerdem gab es leider eine Verzögerung. Die Amerikaner haben Wind von der Sache bekommen und wollten den Mann verhören, denn sie befürchten, daß albanische und sogar chinesische Unterseeboote in diesen von einer amerikanischen Flotte befahrenen Gewässern operieren. Ein Admiral, ein Vizeadmiral und drei Konteradmirale haben ihn drei Stunden lang verhört.«
    »Was hat er gesagt?« fragte Zuniga. Der Major lächelte. »Shkipra«, sagte er.
    Eines Morgens, man hatte schon alle Hoffnung aufgegeben – der Fall dieses Mannes am Strand beschäftigte die ganze spanische Presse und sogar die internationalen Nachrichtenagenturen, und die Polizei hatte beschlossen, Vicente mit Gewalt in ein Krankenhaus zu bringen –, bat der Alte mit schwacher Stimme Pacos Frau um ein Stück Brot. Er aß ein paar Brocken, trank einen Schluck Fleischbrühe, und nach einer Weile stolperte er unsicher, Schritt für Schritt, bis zur Mauer, wo er sich hinsetzte, tief durchatmete und zufrieden aufs Meer blickte. Manche, wie Dr. Valdes, äußerten ihr Bedauern, daß er nicht gestorben sei: Es wäre ihm eine Lehre gewesen. Pater Ignacio ahnte ein neues Wunder und ließ aus Dankbarkeit die Kirchenglocken läuten. Der Sergeant hätte Vicente lieber im Hospital gesehen, »wo solche armen Irren hingehören«. Nur Paco und die Fischer wußten, daß Vicentes plötzliche Rückkehr auf die Mauer mehr mit Vernunft zu tun hatte als mit Verzweiflung.
    »Die Angst vor dem Sterben hätte nicht ausgereicht, ihn zur Besinnung zu bringen«, erklärte Paco mit einem Blick nach der wunderlichen kleinen Gestalt, die wieder auf ihrem alten Platz saß.
    In Wahrheit aber hatte es für Vicente nichts Rätselhaftes, wenn ein Albaner vor den Küsten Spaniens im Wasser schwamm. Er wäre auch nicht überrascht gewesen, hätte der Mann sich als Pygmäe oder als Kopfjäger aus Borneo herausgestellt. Das Meer ist das Meer, ein Ort ohne Grenzen und ohne Überraschungen. Seine Gesetze sind älter und unerbittlicher als das Gesetz der Menschen. Ein Mann, der über Bord gefallen ist, wird gerettet, gleichgültig welcher Rasse und welchen Glaubens er ist. Zumindest versucht man, ihn zu retten, und äußerstenfalls kann nur Heldenmut, nichts Geringeres, dem alten Gesetz gehorchen. Ein Kriegsschiff könnte einer offenen Stadt einen Freundschaftsbesuch abstatten; aber wer hätte je davon gehört, daß eine Infanterieeinheit in freundlicher Absicht eine Stadt besetzte?
    Das Land ist’s, wo die Schwierigkeiten beginnen. Diese Straßen, die nirgendwohin führen, Staub und Sand und verdurstende Bäume, und all diese Menschen, zusammengepfercht auf einen wimmelnden Haufen, diese Kasernen und Kirchen, und diese schmutzigen Fluten der üblen Nachrede, des Gerüchts und der Denunziation.
    All dies dachte Vicente nicht. Er brauchte keine solchen Gedanken, um zu wissen, daß er seinen eigenen, bescheidenen Einsichten folgen sollte. Und diese waren hell und klar. Seine Ahnungen waren unfehlbar, sein Begreifen so tief, daß es selbst für einen Dichter unaussprechlich gewesen wäre. Wenn er also beschlossen hatte, auf seine Mauer am Strand zurückzukehren, so deshalb, weil etwas in ihm – vielleicht seine Zehen, seine Augen, sein inneres Ohr oder eine Regung des Herzens – ihm sagte, daß irgendwo, an einer anderen Stelle dieser weiten Arena, ein Freund wieder an seinen Platz auf der Tribüne zurückgekehrt war – und dort wohl auf einer anderen Mauer saß, vor einem anderen Haufen von Kieseln am Strand, seine Sinne auf einen anderen Horizont gerichtet, der nicht derselbe, aber dennoch in etwa der gleiche war.

Die Schweizer Uhr
    Wie zahlreiche andere Italienerinnen, die die Ehe an sich hatten vorüberziehen lassen, war Pia Chiantella in die Fremde gezogen, um dem realen oder eingebildeten Leid ihrer Heimat zu entfliehen und ihr Brot anderswo zu verdienen. Zu gefühlvoll, um verbittert zu sein, verdingte sie sich in Paris als Dienstmagd bei Monsieur
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