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Havelsymphonie (German Edition)

Havelsymphonie (German Edition)

Titel: Havelsymphonie (German Edition)
Autoren: Jean Wiersch
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1
    Das Echo kurzer Schritte, jenes typische Klacken weiblicher Pfennigabsätze sprang noch zwischen den eckigen Säulen des Stadtbades hin und her, als die Frau mit den Stöckelschuhen das Gebäude bereits panikartig verlassen hatte. Endlich war sie draußen, und endlich entspannte sie sich, ein wenig nur, aber genug, um allmählich ihre Selbstbeherrschung zurückzugewinnen. Aber der Ärger nagte weiter an ihr, sie kam nicht wirklich zur Ruhe.
    Sie lief vor dem dunklen Gebäude hin und her, bis sie im stürmischen Novemberwind fast das Gleichgewicht verlor. Nur mit Mühe fand sie Halt, als die spitzen Absätze tief in den durchweichten Boden drangen und auch noch das Riemchen der rechten Sandale riss. Nein, für einen Aufenthalt im Freien war sie nicht angezogen.
    Regentropfen um Regentropfen zerplatzte auf Wangen und Stirn. Eine ganze Armada der feuchten Himmelsboten brach schließlich über sie herein, von dort, wo nur tiefschwarzes Nichts zu sehen war, das sich Besitz ergreifend über die ganze Stadt gebreitet hatte und alles an Schmuddelwetter ablud, was das Havelland derzeit zu bieten hatte.
    Mit beiden Händen über dem Kopf lief sie zur Hauswand des Stadtbades und suchte in einem verwitterten Türrahmen Schutz. Immer mehr Tropfen, die wie an einer Perlenschnur aufgereiht fast waagerecht durch die Luft geblasen wurden, durchtränkten ihre Bluse, bis die schließlich klatschnass war und eiskalt auf der Haut klebte.
    „Gabi, so warte doch. Gabi!“ Auch er stürzte mehr, als dass er lief, durch die Flügeltür des alten Bades, das als eine der markantesten Schöpfungen des Bauhausstils galt und heute nur noch für Feiern und Feste genutzt wurde. Aber die Feier heute Abend war nicht nach ihrem Geschmack verlaufen.
    „Gabi, ich bitte dich, sei doch vernünftig“, schrie er in die alles verschluckende Dunkelheit und drehte dabei nervös seinen Kopf nach links und rechts.
    Warum verschwand er nicht wieder, dieser Taugenichts?, ging es ihr durch den Kopf. Soll er doch wieder hineingehen, hinein zu dieser aufgetakelten Schnepfe, und soll er tanzen mit ihr, mit seinen leuchtenden Augen. Was konnte sie schon dagegen tun?
    In solchen Momenten, davon war sie zutiefst überzeugt, war es ihm völlig egal, dass er sie der Lächerlichkeit preisgab. Da interessierte ihn auch nicht, dass sie als Mutter von zwei Kindern eine Frau war, die zwar in die Jahre kam, aber noch immer ganz gut mit den jungen, gesichtslosen Dingern mithalten konnte. In solchen Momenten, umringt von seinen geifernden Kollegen, wurde er von seinem Schwanz gesteuert und war nicht zu nüchternen Überlegungen fähig.
    „Gabi, wo bist du denn?“ Seine flehenden Worte amüsierten sie geradezu. Und deshalb wäre es vielleicht sogar ein schöner Moment gewesen, wenn nicht der Wind immer wieder eiskalt durch ihre dünne Bluse gepfiffen hätte. Als sich auch noch nasses, schweres Laub über ihren Sandalen sammelte, lief sie endlich weiter.
    „Bleib doch stehen, verdammt noch mal … Gabi!“ Seine muskulösen Hände packten plötzlich ihre dünnen Arme, hielten sie fest. Wütend sah sie zu ihm auf.
    „Gabi, das ist doch nicht dein Ernst. Findest du nicht, dass du ein bisschen übertreibst? Sie ist die Sekretärin des Chefs, junge Mutter und glücklich verheiratet“, behauptete er. Das hatte er aber schon drinnen geschworen. Ihr fiel die Zeit ein, als sie selbst noch junge Mutter war, die niemals um drei Uhr morgens über den Tanzboden geschwirrt wäre, solange ihre Kinder noch im Baby-Alter waren. Außerdem kannte sie derlei Erklärungen von ihm zur Genüge.
    Ich liebe dich! Es kommt nicht wieder vor! Jetzt zählst nur noch du! Sie wollte es, sie konnte es nicht mehr hören. Nicht jetzt und auch nicht morgen oder an einem anderen Tag. Sie wollte sich das nie wieder antun, hatte sie sich beim letzten Mal geschworen. Nie wieder! Und jetzt fing er wieder damit an. Sie warf die Sandale auf den Boden, schlüpfte hinein und stapfte dann über das glitschige Kopfsteinpflaster der Havelstraße.
    „Komm wenigstens auf den Bürgersteig“, bat er, als er sie wieder eingeholt hatte und neben ihr herlief.
    „Nein“, rief sie energisch, und das Echo ihres Schreis pendelte drei Mal zwischen den Fassaden der alten Bürgerhäuser, ehe es der Wind davontrug. Sie würde ihm in dieser Situation auf keinen Fall irgendeinen Wunsch erfüllen. Nichts durfte den leisesten Verdacht erzeugen, sie würde ihm in Kürze doch wieder nachgeben.
    Sie wollte ihn dieses Mal nicht nur
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