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Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Titel: Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
Autoren: Peter Ustinov
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würde er sich betrinken und in seinem fröhlichen Rausch ein anderes Mädchen finden, das er beschützen konnte. In wachsender Wut über solche nagenden Zweifel schaltete sie ihr kleines Transistorradio an. Der Italienische Rundfunk übertrug »Cavalleria Rusticana« – in voller Länge – direkt aus der Scala. Das machte die Sache nicht besser. Bei jener herzergreifenden Szene, als Turiddu von seiner Mutter Abschied nimmt, brach Pia zusammen und weinte. Nachdem sie geweint hatte, betete sie. Nachdem das Gebet sie ein wenig getröstet hatte, begann sie nachzudenken, und zwar im Banne dieses ganz und gar unwirklichen Opern- Verismo. Sie dachte an ihre Schwester Margherita, die ihr stets eine gute Freundin gewesen war – bis zu ihrer Verheiratung. Danach aber hatte sie eine herablassende Haltung gegenüber ihrer unverheirateten Schwester eingenommen und jeden – noch so förmlichen – Kontakt zwischen ihren Söhnen und der »Tante in dienender Stellung« abgelehnt. Sie waren zwei prächtige Burschen, Giorgio und Manlio, achtundzwanzig und sechsundzwanzig, auch wenn sie sich noch immer für keinen Beruf entschieden hatten. Manlio konnte man seine Faulheit leichter verzeihen, denn er war sehr schön, Giorgio dagegen bodenlos häßlich, aber dies änderte nichts an der Tatsache, daß beide am liebsten in der Sonne lagen, mit kleinen goldenen Medaillons auf der behaarten Brust, und darauf warteten, daß irgend etwas passierte. Und während sie warteten, träumten sie vom Auswandern nach Australien, träumten von der Eröffnung einer Snackbar in Rom, träumten davon, auf ihren Fahrrädern den »Giro d’Italia« zu gewinnen. Aber keiner von beiden hatte die Energie, mit dem Rad bis zur nächsten Straßenecke zu strampeln, ohne sich unterwegs lang hinzustrecken und von etwas anderem zu träumen – manchmal sogar vom Elend im tiefen Süden Italiens, mit seinen alten Rivalitäten und seiner noch älteren indifferenza, seinem widerlich blauen Himmel und seinem Meer unter sengender Sonne. Armes Italien, arme Menschen, wir alle! Und doch schien es ihnen – wie den meisten Taugenichtsen – nie an Taschengeld zu mangeln, auch wenn niemand sagen konnte, woher es kam und wieviel es war.
    Jetzt, unter dem Einfluß von Mascagnis berauschender Musik, entflammte Pia in wilder und törichter Liebe zu diesen beiden Burschen, mit denen sie durch Blutsbande verwandt war und die gewiß ihr eigen gewesen wären, hätte ein launischer Gott es nicht anders gewollt. Auch entbrannte sie in loderndem Haß auf den Schnee, dieses glitschige Kostüm der Erde in alpinen Regionen, das seine Bosheit hinter scheinbarer Harmlosigkeit verbarg. Sie wurde von Sehnsucht gepackt – Sehnsucht nach heißer, rissiger Erde, die unter nackten Füßen brannte, nach dem Duft sonnendurchglühter Pinien, nach dem herben Geruch getrockneter Fische und Kräuter in den Läden. Als die Oper zu Ende war, ging sie zu Bett und versank in zornige und rührselige Träume.
    Am anderen Morgen, als Madame Demoruz gekommen war, nutzte sie die Gelegenheit zu einem Ausflug ins Dorf. Dort gab es, am anderen Ende, ein kleines Geschäft, in dem beinah alles zu haben war – von Kleiderhaken in Form von Hirschgeweihen bis hin zu Skistiefeln, von schlichteren Schweizer Uhren bis zu holzgeschnitzten Souvenirs. Dort kaufte Pia für einhundertachtzig Franken und all ihre Liebe ein Weihnachtsgeschenk für Manlio. Für Giorgio kaufte sie keines, und zwar aus mehreren Gründen: Zum einen war er häßlich, und notfalls hätte sie ihn – selbst in der Phantasie – mit Freuden ihrer Schwester überlassen; zum anderen konnte sie sich, wenn sie auch Giorgio bedenken wollte, kein wahrhaft schönes Geschenk für Manlio leisten. Und letzten Endes war Giorgio der ältere und konnte gut für sich selber sorgen. Beraten von Monsieur Knüsperli, dem Inhaber des Geschäfts, wählte sie eine oktogonale Armbanduhr, die nicht nur das Datum anzeigte, sondern auch einen Wecker hatte. Er packte die Uhr in eine hübsche Schachtel, verziert mit einem endlos fortlaufenden Weihnachtsmotiv; und sie brachte sie zur Post, adressiert an ihren Neffen.
    Das Ehepaar Petiton traf Stunden später ein, und das Leben verfiel in eine behäbige Routine. Monsieur Petiton machte lange Spaziergänge von wenigen hundert Metern, bewaffnet mit einem Alpenstock und behütet von einem grünen, mit Talismanen und Rasierpinsel verzierten Trenkerfilz. Madame Petiton, jünger als ihr Gemahl, frönte in Dauerbegleitung eines
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