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Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Titel: Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
Autoren: Peter Ustinov
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berühmten Bergführers dem Skisport. Die Kinder tobten am Idiotenhügel, während Pia, verloren in ihrer städtischen Kleidung, unten wartete – in der einen Hand einen Rodelschlitten, über dem anderen Arm ein Bündel Wolldecken. Die Ferientage vergingen wie im Flug, und bald war es wieder Zeit für die Schule. Pia sollte die Kinder zurück nach Paris begleiten, wo Miss Frazer, das schottische Kindermädchen, nach ihrem weihnachtlichen Heimaturlaub ihrer harrte. Das Ehepaar Petiton wollte noch ein Weilchen bleiben – Madame, weil der große Bergführer ihr versprochen hatte, sie auf entlegene Gipfel zu führen und ihr neue Tricks beizubringen; Monsieur, weil er eine dem Skilauf ebenso abgeneigte Gefährtin aus einem Nachbar-Chalet gefunden hatte. Der Cadillac wartete inzwischen im Unterland auf neue Taten, so daß Pia die kreischende Bagage mit dem Nachtzug in die Obhut von Miss Frazers strengen Augen und harter Hand zurücktransportieren mußte. Sie erreichte Paris im Zustand seelischer und körperlicher Erschöpfung, nur um dort ein Päckchen vorzufinden, das an sie adressiert war. Es war eine Uhr, an sie zurückgesandt mit einem verlegenen Entschuldigungsbrief von Manlio, der sie bat, sie womöglich gegen ein anderes Modell umzutauschen – ohne Wecker! Denn diese Uhr habe ihn einmal in einer heiklen Situation geweckt – mit bedenklichen Folgen für sein Herz.
    Der Brief war kurz, wie man es von einem Menschen mit so geringer Ausdauer erwarten konnte, und enthielt kein Dankeswort für das Geschenk der Tante. Sie verübelte es dem Neffen nicht, denn Männer haben Wichtigeres zu tun, als sich an Dankesschulden zu erinnern. Aber es machte ihr Kopfzerbrechen, wie oder wo sie die Uhr wohl umtauschen könnte. Schließlich steckte sie sie in einen Briefumschlag, den sie an Madame Demoruz adressierte – die einzige Menschenseele, mit der sie im Dorf Bekanntschaft geschlossen hatte. Freundlich bat sie Madame Demoruz, diese Uhr in Monsieur Knüsperlis Laden zurückzutragen und gegen eine andere umzutauschen – ohne Wecker. Sie wäre bereit, wie sie sagte, jede allfällige Preisdifferenz zu begleichen, meinte jedoch, daß eine Uhr ohne Wecker logischerweise weniger kosten müsse als eine mit. Den Inhalt des Umschlags deklarierte sie als »Muster ohne Wert«, wie sie es in Italien gelernt hatte.
    Nachdem Madame Demoruz die Uhr erhalten hatte, übergab sie diese ihrem Gatten, der sich um die Sache kümmern sollte. Er war ein Mann, der den offiziellen Berufstitel eines Bauern führte, aber keine Mühe gescheut hatte, um niemals in den Besitz eines Bauernhofs zu gelangen. Darum hatte er mehr freie Zeit als seine Frau, die sich wie ein Maultier plagte und vier bis fünf Chalets täglich putzte, um ihre Familie über Wasser zu halten.
    Monsieur Demoruz richtete seine großen, schwarzen Augen begehrlich auf die Uhr und lauschte auf ihr Ticken. Er stellte den Wecker und war sichtlich erfreut, ihn klingeln zu hören. Nachdem er dies Spiel eine halbe Stunde lang wiederholt hatte, nahm Madame Demoruz sich das Recht heraus, ihn zu warnen, er könnte das Uhrwerk kaputtmachen. »Halt’s Maul«, sagte Monsieur Demoruz und kippte noch ein Glas Lie hinunter, einen weißen, aus dem Trester der Trauben gebrannten Schnaps. Solcherart geistig gestärkt, streifte er seine klobigen Bauernstiefel über und marschierte ins Dorf, um Monsieur Knüsperli einen Besuch abzustatten. Die beiden Herren hatten nicht viel für einander übrig. Es war weniger eine Frage des Temperaments als vielmehr der Tradition. Seit Jahrhunderten bevölkerten die Familien Knüsperli und Demoruz dieses Alpental mit seinem unergründlichen, speziellen Menschenschlag, eingekreist von deutschen, französischen und italienischen Welten und untermischt mit den Resten versprengter römischer Legionen. Sie hatten untereinander geheiratet, einander betrogen und dennoch, absurderweise, im Verein mit ein paar anderen Familien, ihre eigene, stolze Identität bewahrt. Im Telefonbuch dominierten sechs Namen – der Rest waren Fremde oder Zuwanderer. Monsieur Knüsperli blickte mit unverhohlener Mißbilligung von seiner Ladentheke auf, als jetzt ein Demoruz – egal, welcher – das Geschäft betrat.
    »Was wünschen Sie?« fragte er, oder vielmehr, sein Unbehagen unterstreichend: »Was willst du?«
    »Es geht um diese Uhr«, antwortete Monsieur Demoruz. »Welche Uhr?«
    »Diese hier«, sagte Monsieur Demoruz und öffnete das Päckchen. »Sie wurde hier gekauft – von einem
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