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Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Titel: Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
Autoren: Peter Ustinov
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Petiton, einem französischen Bankier, der die meisten ihrer guten Eigenschaften ignorierte – er hatte einfach keine Zeit, sie aufzuspüren –, jedoch ihre Ehrlichkeit schätzte; eine Tugend, für die ein Bankier außerordentlich empfänglich ist, vor allem dann, wenn sie sich im Bereich kleinerer Summen und belangloser Vertrauensgesten äußert.
    Als Weihnachten nahte, bereiteten die Petitons sich vor auf den alljährlichen Umzug in ihr Chalet in der Schweiz – ein neues und ziemlich gewöhnliches Bauwerk, entsprungen der vielseitigen Phantasie Monsieur Petitons, der wie so mancher Selfmademan überzeugt war, von Architektur mehr zu verstehen als diejenigen, die das Handwerk gelernt haben. Das Chalet stand an einem schattigen Hang, mit Blick auf ein sonniges Tal, und hatte in all seiner Arroganz und Feindseligkeit etwas Mittelalterlich-Strenges, aufgelockert nur durch den verschwenderischen Prunk modernen Gitterwerks vor dem Hintergrund mediterranpinkfarbener Stuckarbeiten und alpenländischen Arvenholzes – sowie durch die scheußlichen Zwerge aus buntem Gips und die geschmacklosen steinernen Hasen und Eichhörnchen, die im Garten verstreut standen.
    Madame Petiton hatte den Vorschlag gemacht, man könne doch Pia auf diese Reise mitnehmen, sowohl zur Belohnung für ihre Dienste wie auch zu dem Zweck, sie tüchtig mitarbeiten zu lassen bei der Betreuung von vier aufsässigen Kindern, die der Bankier zwischen all seinen weitgestreuten Aktivitäten wie nebenbei gezeugt hatte. Monsieur Petiton war einverstanden. Kurz vor Weihnachten brach die Karawane auf aus Paris – die Familie im Schnellzug, Monsieur und Madame Petiton in ihrem Cadillac mit Chauffeur.
    An dem ersten Tag oben in den Bergen hatte Pia die Kinder ganz für sich allein. Unterstützung fand sie nur in Madame Demoruz, einer Einheimischen, die das Chalet das runde Jahr hindurch zwei Stunden täglich putzte. Etwas wie Freundschaft entstand zwischen diesen beiden, die nichts Gemeinsames hatten. Doch immerhin werden Freundschaften überall auf der Welt aus keinem besonderen Grund geschlossen, außer aus Einsamkeit, insbesondere wenn auch noch jener Kitt beiderseitig vermuteten Unglücks hinzutritt, der dem taktvollen Schweigen etwas Pikantes verleiht. Der Cadillac war, hundert Kilometer vom Ziel entfernt, elend in einer Schneewächte steckengeblieben, und Monsieur und Madame Petiton hatten keine andere Wahl, als ihre erste Urlaubsnacht in einem Hotel an den Gestaden des Genfer Sees zu verbringen. Der holländische Chauffeur, der sich möglicherweise als Held bewährt hätte, wo es den mächtigen Wagen aus Deichbruch und Sturmflut zu bergen galt, war völlig hilflos gegenüber den Bedingungen in den Bergen, die er noch nie gesehen hatte. Übrigens war es typisch für Monsieur Petiton, lieber ausländischem Personal sein Vertrauen zu schenken. Gegenüber Mitgliedern der eigenen Nation fühlte er sich etwas unbehaglich, da er ihre Kritik zu spüren meinte. Und er lebte diesen Komplex auch aus, indem er verkündete, daß die Franzosen seiner Wertschätzung nicht mehr würdig wären. Genau an jenem ersten Abend, allein in einer überheizten Küche, bekam Pia etwas von der obszönen Einsamkeit aller großen amtlichen Feiertage zu spüren. Diese Feste haben eine gewisse Art, Menschen zusammenzuführen und jene doch auszuschließen, die allein stehen und niemanden haben, zu dem sie gehen könnten. Die Kinder waren im Bett. Sie tobten dort oben mit wildem Geschrei, aber offiziell waren sie im Bett. Es waren nicht Pias Kinder, und ihre Eltern waren nicht da. Im Dorf stand ein Weihnachtsbaum, beleuchtet von bunten Lampen. Es schneite. Ein Kloß bildete sich in Pias Kehle. Sie war einverstanden gewesen, in die Schweiz mitzukommen, sie hatte sich willig und gar begeistert gezeigt, aber dies war nur ihre instinktive Treue zu Menschen, die freundlich zu ihr waren. Für sie bedeutete es, ihren Mann in Paris zurückzulassen. Ihr Mann (il mio uomo, so nannte sie ihn) war ein Verschwender und unverbesserlicher Taugenichts, ein italienischer Kellner, den es nie in einer Stellung hielt. Es gab wenig Verbindendes zwischen ihnen beiden, außer dem Geld, wovon sie immer ein bißchen und er nichts besaß; aber sie sprachen Italienisch, und bei ihm fühlte sie eine gewisse Sicherheit, sogar Geborgenheit.
    Ihre Liebe hatte etwas von jener rätselhaften Beziehung zwischen Hure und Zuhälter, und jetzt fragte sie sich, was er ohne sie in Paris wohl anstellen würde. Wahrscheinlich
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