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Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Titel: Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
Autoren: Peter Ustinov
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kreischenden Möwen und ihren großen Ungewißheiten. Manchmal drehten sie sich eine Zigarette; manchmal knüpften sie nutzlose Knoten in herumliegende Fetzen alter Fischernetze und lösten sie dann wieder auf. Hin und wieder weckte irgend etwas ihre Aufmerksamkeit; sie hoben den Kopf, nahmen Kenntnis oder lächelten sogar. Das Äußerste, was sie im Sinn eines normalen Gesprächs je erreichten, geschah, wenn einer fragend eine Wolke betrachtete und der andere bedächtig nickte oder halb die Schulter hochzog. Die Dorfbewohner hüteten sich, in dieses große Schweigen einzudringen; es war für sie ein Quell der Ruhe geworden, ein guter Einfluß auf alle, die dafür empfänglich waren – und die Vorgeschichte kannten. Gelegentlich kam Pacos Frau oder eine andere dieser stattlichen Damen mit einem Leckerbissen, der übriggeblieben oder extra für die zwei Alten gekocht worden war. Und jeden Morgen befragten die Fischer Vicente nach dem Wetter, und er antwortete mit einer bejahenden oder verneinenden Gebärde. Der Albaner, der solche Fragen mühelos verstand, antwortete schweigend und auf die gleiche Art wie Vicente – aber mit freundlicheren und weniger knappen Gebärden als sein Freund: Gebärden, die einer schmeichelnden Choreographie entsprangen.
    Lärmende Kinder verstummten für einen Moment, wenn sie auf dem Schulweg oder zurück an der Mauer am Meer vorbeikamen; räudige Hunde, verwildert und scheu, die jedem Menschen in weitem und mißtrauischem Bogen auswichen, verdächtig zitternd und ängstliche Blicke aus gelben Augen werfend, trabten zutraulich zu den beiden Alten hin, wedelten mit dürrem Schwanz und blickten wachsam. Manchmal täuschte sie der Albaner, indem er so tat, als schleudere er einen Stein. Die Hunde wirbelten herum, lauerten auf das Geräusch des fallenden Kiesels, und wenn es ausblieb, wandten sie langsam den Kopf – mit dem geduldigen Blick von Genasführten. Manchmal pfiff dennoch ein Steinchen durch die Luft, hüpfte fröhlich über andere Steine, während die Hunde ihm jaulend nachjagten und verblüfft vor einem Meer von Kieseln stehenblieben, ohne den einen entdecken zu können, der durch die Luft geflogen war und jetzt so reglos dalag wie alle anderen. Dann mochte irgendein harmloser Dorfbewohner vorbeikommen, und wieder ließen die Hunde die Köpfe hängen, fletschten ihre ungesunden Zähne und trippelten, wie auf Zehenspitzen, in scheinbar ziellosen und haßerfüllten Kreisen um den Eindringling herum. Eines Tages fuhr Major Gallego y Gallego wieder in seinem blauen Auto vor, und El Albanes wurde fortgebracht. Vicente lehnte sich gegen die Tür des Wagens, und der Major mußte ihn auffordern zurückzutreten. Er weigerte sich. Der Wagen fuhr los, und Vicente stolperte hinter ihm auf die Straße. Fast einen Kilometer weit lief er hinter dem Auto her – dann blieb er stehen, mitten in dieser kahlen spanischen Landschaft. So weit vom Meer entfernt, fühlte er sich verloren. Die Straße führte nirgendwohin. Nur Staub und Trockenheit gab es hier. Die Bäume schienen abgestorben, die Büsche waren grau vor Wassermangel. Sogar das erregte Zirpen der Zikaden war für Vicentes Ohren ein fleischloser Ton, ein Aneinanderschaben bleicher Knochen, fast ein Signal des Todes. Bedrückt wandte er sich ab und kehrte zum Meer zurück, zu den Grenzen seines Begreifens. Sein Gesicht war voll Trauer – ein Gefühl, soviel schlimmer als Schmerz, weil es beharrlicher war. Zurückgekehrt, legte er sich an den Strand und schlief ein. Als es dämmerte, wachte er auf, wollte aber nicht aufstehen. Die Dorfbewohner waren beunruhigt, als sie ihn dort liegen sahen; noch beunruhigter waren sie, ihn nicht auf der Mauer sitzen zu sehen. Pacos Frau kochte etwas für ihn, aber er weigerte sich, es anzurühren. Die Besorgnis der Dorfbewohner verwandelte sich in Wut.
    »Warum durfte El Albanes nicht hierbleiben?« kreischte die Gattin des Jose Machado Jaen. »Was hatte er denen getan?« Die Männer waren weniger sentimental. Sie waren tolerant gegen Formulare und Fragebogen und Soldatendienst und Krieg. Auch wenn sie diese Dinge nicht völlig verstanden, waren es immerhin Schranken, die der Einfluß einer Frau nicht zu durchdringen vermochte. Die Regionen maskulinen Schwachsinns sind gut bewacht. Erst nachdem allen klar wurde, daß Vicente sterben wollte, vereinigten sich die Männer mit dem Chor der Klageweiber.
    Pater Ignacio kam, über seine Soutane stolpernd, herunter zum Strand. Er versuchte Vicente zu
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