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Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Titel: Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
Autoren: Peter Ustinov
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überzeugen, daß Selbstmord eine Todsünde sei. Doch alle Hinweise auf Feuer und Schwefel der Hölle verhießen nur Erlösung vom sinnlosen Schmerz dieser Welt.
    Auch Dr. Valdes stattete dem Strand einen Besuch ab, auf Bitten des Paco Miranda Ramirez, der wieder auf seinem Fahrrad nach Maera de las Victorias gestrampelt war. »Wenn Sie nicht essen wollen«, keuchte Dr. Valdes, »lasse ich Sie fortschaffen. Und im Krankenhaus von Maera wird eine schreckliche und verschrumpelte alte Nonne etwas mit Ihnen machen, was man als intravenöse Ernährung bezeichnet. Wissen Sie, Don Vicente, was das ist? Man wird Ihnen ein fingerdickes Loch in den Arm stoßen und Fleischbrühe hineinpumpen, bis sie Ihnen aus den Augen fließt. Ich kannte mal eine Frau, der, immer wenn sie weinte, Fleischbrühe über die Wangen floß. Jeder sah ihre Schande, und statt Mitleid mit ihrem Kummer zu haben, sagten die Leute: >Aha, sie war bei den guten Schwestern im Hospital von Maera, sie wurde intravenös ernährt, die verworfene Seele.<«
    Es war vergeblich. Immer wenn Dr. Valdes Vicente den Puls fühlen oder ihm ins Gesicht sehen wollte, wälzte sich dieser auf die andere Seite. Schließlich gab der Arzt sein Bemühen auf und fragte nur noch, wer sein Honorar zu bezahlen gedächte.
    In letzter Not baten die Dorfbewohner den Sergeanten, Cuenca Loyola, an den Strand zu kommen. Es gab wenig Hoffnung, daß er Erfolg haben würde, wo andere vor ihm gescheitert waren. Dennoch machte er einen tapferen Versuch. »Hör mich mal an, hombre«, sagte er und versuchte, sich in den Sand zu knien, ohne seine Uniform zu beschmutzen. »Du hast keinen Grund, traurig zu sein. El Albanes wird nach Hause fahren, hörst du, nach Albanien, oder wo immer diese Leute wohnen, diese Shkipras. Wie würdest du es finden, in einem Land zu leben, wo du die Sprache nicht verstehst?«
    Vicente sah ihn müde an. Doch sein Gesicht verriet, daß er es wunderbar finden würde.
    »Und jetzt sieh zu, daß du etwas in den Bauch bekommst. Sei doch kein Narr. Ich kann dir nicht befehlen, etwas zu essen. Ich kann dich nur bitten, weißt du, was ich hiermit tue. Du hast gute Arbeit geleistet mit El Albanes, jetzt mach nicht alles kaputt. Ich habe einen Bericht geschrieben, und du bist darin erwähnt. Einen Bericht an die Behörden in Madrid. Dein Name liegt also zur Stunde auf einem Schreibtisch in Madrid!«
    Das Rettungswerk an Vicente hielt alle in Atem. Tagsüber gab es kaum einen Moment, in dem nicht irgend jemand bei ihm war, sogar Journalisten aus der nächsten Stadt. Und der erste, der morgens aufstand, erzählte den anderen, daß Vicente noch am Leben sei.
    »Was sollen wir machen?« fragte Major Gallego y Gallego, den man in seiner dienstlichen Funktion hinzugezogen hatte. Wie immer war er fasziniert von den Launen des Schicksals und von der unergründlichen Dummheit der Menschen. »Einen Mann, der sterben will, kann man nicht am Sterben hindern«, sagte er. »Vielleicht würde solch ein Versuch sogar die Würde und Freiheit des Individuums verletzen, egal, was Mutter Kirche sagen mag. Aber welchen Grund hat dieser Mann, sterben zu wollen? Jedem aufgeklärten und gebildeten Menschen mag es lächerlich vorkommen, und dennoch: Hat die Schlichtheit und Reinheit dieses Wunsches nicht etwas Erhabenes? Erinnert er nicht an die junge Liebe zweier Schulkinder oder gar an die bedingungslose, stumme Anhänglichkeit eines Hundes? Ja, eines Hundes! Dies ist kein entwürdigender Vergleich: Denn sosehr ich meine Frau und meine Kinder liebe, ist mein Hund doch das einzige Wesen auf dieser Welt, dem ich immer vertrauen kann – gerade weil er stumm ist. Wörter betrügen nur, sie machen alles so kompliziert. Ich weiß nicht, wie ich ohne sie leben könnte; aber gelobt seien diejenigen, die es können.«
    »Ach, können wir ihm denn gar nichts sagen, was ihn aufheitern würde?« fragte Pater Ignacio, der bei jedem auch nur entfernt Voltairianischen Gedanken schamhaft errötete und vermeiden wollte, sich in einen Disput mit dem Major verwickeln zu lassen – hauptsächlich aus Angst vor Ansteckung durch den Zweifel.
    »Ich bin überzeugt, es wäre ein Trost für unseren armen Freund, wenn wir ihm sagen könnten, daß El Albanes wohlbehalten seine Heimat erreicht hat; daß er wieder glücklich mit seiner Familie vereint ist.«
    »Wir könnten es ihm sagen, aber es wäre eine Lüge.«
    »Lügen dürfen wir nicht. Nein, das dürfen wir nicht«, erwiderte Pater Ignacio. »Aber gibt es denn keinen
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