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Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Titel: Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
Autoren: Peter Ustinov
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Schlagzeugbesen, wenn belangloser Lärm nächtelang aus den Kneipen blafft. Geduldig warten sie auf den Herbst.
    In dem Dorf San Jorge de Bayona war einer dieser alten Männer Vicente Mendendez Balestreros, und für einen Mann mit so klangvollem Namen war es vielleicht verwunderlich, daß er weder lesen noch schreiben konnte. In Wahrheit brauchte er’s nicht zu können, denn er bekam nur Briefe von den Behörden, und solche Briefe waren keiner Antwort wert. Er sprach nicht viel, doch seine Gedanken, wenn auch selten, waren geheimnisvoll und abstrakt. Er hatte keine Frau, denn er besaß wenig genug, auch ohne es teilen zu müssen. Geld hatte ihn nie gekümmert, doch er bewahrte sich eifersüchtig die stille Kathedrale seines Geistes.
    Der Sommer war jetzt vorbei, Dank sei Gott, dem Schöpfer aller Jahreszeiten. Die Kneipen hatten geschlossen oder waren gedemütigt durch die Anwesenheit der Einheimischen. Die kleinen Boutiquen, mit Namen wie Eros oder Conchita, waren verriegelt, ihre winzigen Schaufenster leer. Die zwei modernen Touristenhotels, El Fandango und die Hacienda Goya, hatten die Rolläden heruntergelassen, und es gab keine Bikinis auf den Balkons aufzuhängen. Die Nächte waren wieder geräuschlos, abgesehen vom tiefen Atmen der See. Vicente, ohne eine Frau, die ihn gescholten hätte, und ohne großen Appetit, saß länger als die anderen alten Männer auf der Mauer. Nie sagten sie gute Nacht, wenn sie ihn verließen, so neidisch waren sie auf seine Freiheit. Irgendwie hatte er sich im hohen Alter seine Jugend bewahrt, während sie voluminöse Gattinnen hatten, die in ihren Zweizimmerhütten auf sie warteten, ehrwürdige Vetteln mit Haaren am Kinn, wie die Borsten, die aus überreifen Sofas hervorstechen, und mit Brüsten, die wie Traglasten eines Esels herabhingen. Sie hatten auch lithographierte Heiligenbilder überall an den Wänden. Die Religion kommt mit den Frauen ins Haus. Der Priester kleidet sich sogar wie eine Frau, um zu missionieren. Vicente war Katholik, aber er glaubte nicht an Gott, falls man den Glauben ans Meer nicht als Form eines Glaubens an Gott auffassen wollte. Wohl murmelte er und machte Handzeichen und kniete und küßte wie alle anderen, weil er nach dieser Art erzogen worden war, doch was den Glauben betraf, konnte er sich nur der Führung der Vernunft unterwerfen, gemildert stets durch die herben Paradoxien der Erfahrung. Priester waren für ihn nicht Männer mit einer göttlichen Berufung, sondern Männer, die sorgfältig jede Arbeit mieden. Die Orgel schmerzte ihn in den Ohren, und je besser sie gespielt wurde, desto heftiger litt er. Gleichzeitig hatte er keine Geduld mit Angehörigen anderer Religionen, sofern sie nicht Seeleute waren, in welchem Fall sie Besseres zu tun hatten, als sich um Dogmen zu kümmern.
    Eines Abends – es war weit nach zehn, der Mond stand voll, und schwarze Wolken jagten in geordneten Formationen über den Himmel – war Vicente noch immer auf seiner Mauer, und allein. Plötzlich zitterte er, und die Zehen seiner nackten Füße krümmten sich auf wie in höchster Bedrängnis. Ein kühler Wind seufzte aus unerwarteter Richtung, und Geräusche wie von einem fernen Kavallerieangriff drangen in unregelmäßigen Abständen vom Horizont herüber. Ein Laken an einer Wäscheleine flatterte wie ein Segel, wenn das Schiff seine Richtung ändert. Er stand auf. Sein Gesicht legte sich in Falten, während seine haselbraunen Augen in die Ferne blickten, wo die letzten Farben des Tages jetzt nur noch angedeutet waren in einer Spur Grün, einer malvenfarbenen Nuance und einem Schildpattflecken Schwarz und Orange. Er humpelte zur nächsten Hütte und pochte an die Tür. Eine der kolossalen Frauen öffnete und fragte, was er wolle. Zu dieser nächtlichen Stunde, beinah zu jeder Stunde, gab es eine Schranke zwischen jedem Mann und der Außenwelt. Vicente verriet nicht, was er wollte. Er deutete nur mit dem Kinn zum Horizont. Schließlich erschien der Mann. Es war Paco Miranda Ramirez.
    »Was siehst du dort?« fragte er.
    Nachdem Vicente sich nicht dazu bewegen ließ, es zu sagen, marschierte Paco in Unterhosen hinaus, schob das Gekreisch seiner Frau beiseite und warf selbst einen gemessenen Blick zum Horizont.
    »Es ist zu dunkel, um etwas zu sehen«, sagte Paco. Vicente schüttelte kurz den Kopf, um zu widersprechen. »Was siehst du?«
    »Komm herein!« schrie die Frau.
    »Still, Frau!« überschrie sie der Mann, der in Gegenwart eines anderen Mannes immer mutig war.
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