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Geschichte der Tuerkei

Geschichte der Tuerkei

Titel: Geschichte der Tuerkei
Autoren: Klaus Kreiser
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Vorwort
    Die Gründung der Republik Türkei im Jahr 1923 war gewiss das wichtigste Datum zur historischen Abgrenzung gegenüber dem über 600 Jahre alten Osmanischen Staat. Aber auch die jungtürkische Revolution von 1908, mit der viele Reformen eingeleitet wurden, der Beginn des anatolischen Widerstands gegen die griechische Besatzung (1919) und das 1925 erlassene «Gesetz zur Wiederherstellung der Ordnung» bildeten einschneidende Wendepunkte. Von der türkischen und ausländischen Historiographie wurde diese Vor- und Frühgeschichte der Republik lange unter der Überschrift Widerstand, Rebellion und Revolution vermittelt. Die von Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938) und seinen Mitstreitern angestoßenen Umwälzungen kann man, je nach Einstellung, als zivilisierende und demokratische Revolutionen bewerten, als wohlwollende Erziehungsdiktatur oder als jakobinische Exzesse – die wichtigste Zäsur stellten sie unbestritten dar. Jedenfalls waren es weder bürgerliche noch bäuerliche, schon gar nicht proletarische Revolutionen, die aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches wieder den wichtigsten Staat zwischen Südosteuropa und dem Nahen Orient gemacht haben, sondern die Projekte einer Elite aus Militärs und Bürokraten. Die Türkei hat sich nach 1922 an keinem bewaffneten Konflikt mehr beteiligt, wenn man von der Korea-Mission unter der Ägide der Vereinten Nationen (1950–1953) und der Besetzung von Teilen Zyperns (1974) absieht. Die von Atatürk und seinem Nachfolger İsmet İnönü (1884–1973) verfolgte Balancepolitik, die eher auf Sicherheitspakte als auf Aufrüstung setzte, bestand ihre Belastungsprobe im Zweiten Weltkrieg. Ab den 1950er Jahren trieb das Land konsequent die Integration in westliche und globale Bündnissysteme voran. Die kemalistische Einparteien-Herrschaft wurde fast reibungslos in eine parlamentarische Demokratie übergeführt.
    Das türkische Parteiensystem ist durch zwei große, nicht allzu starre Blöcke charakterisiert, deren Wurzeln in die spätosmanische Zeit zurückverfolgt werden können und deren Gegensätze nur in der Phase der Einheitspartei (1926–1946) kaschiert wurden. Auf der einen Seite stehen die laizistische «Volkspartei» und ihre Nachfolger, mit der sich Städter im Westen des Landes, Militär, Bürokratie, Hochschulangehörige und ein Teil der Arbeiterschaft identifizieren und die letztlich in der jungtürkischen «Gesellschaft für Einheit und Fortschritt» ihren Vorgänger hat. Auf der anderen Seite befinden sich die konservativen Kräfte, die von der anti-zentralistischen, in religiösen Fragen versöhnlichen sogenannten «Zweiten Gruppe» bzw. den kurzfristig geduldeten Oppositionsparteien im Kemalismus ausgingen. Sie repräsentieren die Achse «Demokratische Partei», «Gerechtigkeitspartei», «Partei des Rechten Wegs» und «Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung». Die Führer beider Richtungen waren freilich zwischen 1960 und 2002 gezwungen, Koalitionen mit kleineren Parteien einzugehen. Als Schnittmenge aller relevanten Gruppen (mit Ausnahme der Kurden) bildet indes der türkische Nationalismus die wichtigste Voraussetzung für das Fortleben des Systems nach über 60 Regierungswechseln seit 1920.
    Die neue Türkei verschrieb sich von Anfang an keiner starren Wirtschaftsdoktrin. Zu ihrem Erfolgsrezept gehörte, dass sie sich – nicht ohne ausländische Beratung und Unterstützung – letztlich selbst entwickeln musste. Da keine nennenswerten Erdölressourcen vorhanden sind, blieb ihr das Schicksal erspart, zum Renten-Staat zu verkommen. Ihre Wirtschaft, deren Industrialisierung auf schmalster Basis erfolgte, ist längst nicht mehr einseitig von Erträgen aus Ackerbau und Viehzucht abhängig. Der Tourismus ist eine wichtige, aber keine tragende Säule. Transferleistungen der türkischen Diaspora haben nicht mehr die Bedeutung wie in früheren Jahrzehnten.
    Neben den zivilen Regierungen bewahrten die Streitkräfte auch nach einem letzten autoritären Zwischenspiel (1980–1983) ihre Sonderrolle bis in die unmittelbare Gegenwart. Militärische Interventionen und Ausnahmezustände prägten fast ein Drittel der republikanischen Periode. Seit 2002 gibt es eine Regierung,die auf islamische Werte setzt. Damit endet eine Epoche, in welcher der Staat gegenüber seinen muslimischen Bürgern die Rolle des Religionslosen einnahm. Freilich fährt er fort, gegenüber den Nichtmuslimen und den heterodoxen Aleviten, deren Anteil an der Bevölkerung 10, höchsten 20 %
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