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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Autoren: Ulla Lachauer
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    Der Papierkorb
    An einem Morgen vor sehr langer Zeit habe ich meine Mutter gefragt:
    «Warum träume ich so oft vom Rascheln? Warum mag ich es so gern, wenn es irgendwo knistert?»
    «Ganz einfach», hat sie gesagt. «Du bist als Kind schrecklich lebhaft gewesen. Um dich ruhig zu kriegen, haben wir dich in den vollen Papierkorb gesetzt. Da hast du alles Papier rausgeschmissen, zerknüllt oder zerrissen. Nachher brauchte man nur den Besen nehmen und Magdalena ins Bettchen legen.»
    Mir ist heute ganz klar, warum. Weil ich so wenig gesehen habe. Ungefähr nach meiner zweiten Augenoperation muss das gewesen sein, ich war gerade sechzehn Monate alt. Normalerweise ist alles, was der Mensch vor seinem dritten Geburtstag erlebt, dem Erwachsenen nicht mehr zugänglich, so sagen die Gedächtnisforscher. Aber ich schwöre, etwas in mir erinnert sich an diesen Papierkorb unter Vaters Schreibtisch und an etwas Weiches, Haariges gleich daneben. «Ein Dachsfell!», hörte ich etwas später die Eltern sagen, ich war dem Papierkorbalter gerade entwachsen und begann, den Wörtern zu verfallen. Ich saß unter dem großen Schreibtisch auf dem Fußboden, wo mich, wie ich glaubte, keiner sah, und rief Wörter in die Stille: «Dachssssfffell.» Das zischte ganz wunderbar in der Mitte, das gefiel mir. «Bachstelze» gehörte auch in die Gruppe der Laute, die ich liebte. Oder «Kekse», das knackte, da war so ein kleiner Luftzug, der im Rachen anfing und dann mächtig gegen die Zähne drängte. Aber «Dachsfell», diese dichte Folge von Konsonanten, war von allen das beste. Vielleicht weil sie dem Rascheln des Papiers ähnelt? Ich konnte das Wort viel schöner aussprechen als Vater und Mutter, bei ihnen klang es irgendwie flach. Für sie war das Wort nur eine Mitteilung, eine mehr oder weniger bedeutungsvolle Sache. Dieses zum Beispiel versahen sie gern mit einem Ausrufezeichen. Anscheinend handelte es sich bei dem Dachsfell um eines der Dinge, die den Wert unserer Familie beweisen sollten. Als ich schon fast erwachsen war und den Geheimnissen, die mein Leben umgaben, auf der Spur, fand ich heraus: Es war gar kein Dachs, es war ein toter Hund.
    Im Rischel-Raschel des Papiers fühle ich mich bis heute geborgen. Töne aus Papier, in unendlichen Variationen, das war mein erstes großes Glück, und damit verbunden die helle, weiche Stimme meiner Mutter.
    Meine Mutter hat mir berichtet, ich hätte schon früh ziemlich genau erfassen können, was um mich herum vorging. Wie ein hellwaches, flinkes Tierchen war ich. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, kaum dass ich laufen konnte, war, mir eines der Sofakissen zu schnappen. Egal ob Samt oder Seide, und schwupp! saß ich auf der Treppe und bin vier Etagen bis zum Erdgeschoss runtergerutscht. Stufe für Stufe, nach acht Stufen kam immer ein Absatz. Das hat fürchterlich gerumpelt, daran hat meine Mutter gemerkt, dass ihre Tochter mal wieder unterwegs ist. Oft hat sie mich schon im dritten Stock erwischt und mich im Genick gepackt. Sie lachte, steckte mich an mit ihrem Lachen. Und ab in die Küche, wo ich bis auf weiteres unter Aufsicht war. Wenn ich mehr Glück hatte, ging meine Treppenreise bis ins Parterre. Unten angekommen, stand himmelhoch über mir eines der Wunderdinge dieses Hauses, ein auf dem Schlusspfeiler des Geländers angebrachter weißer, geschliffener Glasknauf. Er glitzerte, besonders bei Sonnenlicht. Wenn ich mich satt gesehen hatte, bin ich auf allen vieren, so leise es ging, wieder hochgekrabbelt. Nicht nur wegen meiner Rutschpartien hat meine Mutter viele Ängste ausgestanden.
    «Unsere Magdalena hat was mit den Äugle», sagten meine Eltern, wenn Fremde zu Besuch kamen.
    «Armes Mädle!», hörte ich manchmal auf der Straße, wenn ich an Großvaters Hand spazieren ging.
    Was hatten die Erwachsenen nur? Für mich war die Welt vollkommen in Ordnung. Ich sah doch! Vor dem Fenster im vierten Stock schimmerte es Grün, das waren die Bäume vom Freiburger Schlossberg. Kleine und größere, überragt von einer riesenhaften Kastanie, die im Sommer anders gefärbt war als im Herbst, im Winter nur eine dunkle Silhouette. Alle Menschen, glaubte ich, sehen Bäume so. Und sie erkennen einander vor allem an ihren Stimmen. Jede ist völlig anders, Mutter und Vater, Großvater und Tante Regina waren für mich mühelos zu unterscheiden, selbst wenn sie flüsterten oder sich nur räusperten. Außerdem roch jeder von ihnen anders.
    Und dann gab es ja zur Orientierung die
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