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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar
Autoren: Sascha Reh
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entschieden haben.«
    Thomas wusste eine ganze Weile nicht, was er darauf sagen sollte; er war gerührt, dass Feldberg seinen »Weg« durch eine bloße flüchtige Erwähnung ganz selbstverständlich anerkannte. Ihm fiel auf, dass ihm Feldberg, trotz dessen grundsätzlicher Verweigerung des vertrauenstiftenden Du, im Grunde sogar näher war als sein Vater.
    Thomas’ Entscheidung, kein Teil dieser Familie mehr zu sein, war eigenmächtig gewesen. Auf der einen Seite mochten die Stiftungen und das kunsthistorische Engagement seines Vaters die Geschichte eines Unternehmers erzählen, der seine Mitgestaltungspflicht und bürgerliche Verantwortung nicht scheute und diese sogar als den eigentlichen Sinn und Antrieb seiner Geschäfte ausstellte. Auf der anderen Seite aber hatten Banken wie seine Hunderte und Tausende von Arbeitsplätzen auf dem Gewissen, die das Pech hatten, zur Konkursmasse eines seiner Aktiengeschäfte zu werden. Die Lasten, die der Name Alberts zu tragen hatte, reihten und stapelten sich bis weit in die Vergangenheit. Die Frage, wie die Alberts’ in den dreißiger Jahren ihren Einflussbereich hatten ausdehnen können und welche unseligen Allianzen sie dazu eingegangen waren, hatte sich Thomas immer zu machtvoll aufgedrängt, um sie auf sich beruhen zu lassen.
    Er dachte an jenen Tag, an dem er fortgegangen war, im letzten Streit, den die beiden ausgetragen hatten. »Gangster«, so hatte er seinen Vater mit, mag sein, ein wenig jugendlichem Pathos genannt. Fehlender Ehrgeiz, hatte sein Vater mit gerötetem Kopf gesagt, mache noch viel schuldiger als Aktienhandel; die Neinsager machten nichts besser, sondern lediglich gar nichts. Thomas, knirschenden Kies unter den Sohlen, war die Auffahrt entlanggegangen; zu dieser Zeit hatte er starken, handgedrehten Tabak geraucht und das Haar mittellang getragen. Die Reichen dagegen, rief oder schrie sein Vater hinter ihm her, kauften aus heimischer Produktion, unterstützten den fairen Handel, stifteten Millionen und engagierten sich für Humanismus und Kultur. Wer sich nicht anstrenge, etwas zu erreichen, lasse die Welt im Stich. Es waren für lange Zeit die letzten Phrasen gewesen, die jemand persönlich an Thomas gerichtet hatte.
    Am Abend bekamen sie Hunger. Thomas erwog, sich gemeinsam mit Sol Moscot, der das Warten stoisch ertragen hatte, für eine Weile vom Klinikgelände zu entfernen und in einem der umliegenden Restaurants etwas zu essen, entschied sich aber, nur eine kurze Runde zu drehen, dem Hund den Rest des mitgebrachten Trockenfutters und etwas Wasser zu geben und dann wieder zurückzukehren. Feldberg, der nur selten eine Rauchpause einlegte, wachte beinahe ununterbrochen am Bett seines Vaters, während Thomas und auch seine Mutter sich wenigstens kurzzeitig der Anwesenheit auf der Station entzogen. Seine Mutter gab wieder und wieder vor, mit den Mitarbeitern ihrer Stiftung telefonieren zu müssen, deren Schicksal ihr besonders am Herzen zu liegen schien. Thomas’ Bemühungen, Neuigkeiten vom Klinikpersonal einzuholen, offenbarten ihre Fadenscheinigkeit hingegen darin, dass seine Expeditionen meist nicht mit dem Auffinden einer Schwester, sondern eines Bechers Kaffee endeten. Er musste sich nicht eigens eingestehen, dass er vor der bedrückenden Enge der Situation floh. Er hoffte inständig, dass bald seine Schwester käme, mit der er, wann immer sie telefonierten, beinahe mühelose Gespräche führen konnte. Er hatte die größte Bewunderung dafür, wie Stefanie gemäß den Erwartungen seiner Eltern – diese allerdings zu ihren eigenen Gunsten auslegend und damit übertreffend – einem eigenen Karriereweg ins Ausland gefolgt war, anstatt die Ausbildungsofferte des Vaters anzunehmen. Er bewunderte seine Schwester dafür, wie sie etwas, das Thomas mit seiner hart erworbenen Qualifikation legitimieren musste, als den selbstverständlichen Ablösungsprozess ansah, der es in Wirklichkeit ja auch war.
    Thomas’ Mutter machte weder Anstalten, ein Restaurant aufzusuchen, noch überhaupt das Krankenhausgelände zu verlassen. Auch die wiederholte Empfehlung einer Stationsärztin, sich zu Hause auszuruhen und darauf zu vertrauen, dass das Klinikpersonal beim kleinsten Anzeichen von Veränderung Nachricht geben werde, weigerte sie sich zu befolgen.
    »Vielleicht sollten wir fragen, ob man wenigstens ein Bett für dich aufstellen kann«, schlug Thomas ihr vor, nachdem er kurz vor Schließung der Cafeteria noch drei in Frischhaltefolie verpackte und
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