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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar
Autoren: Sascha Reh
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fragte er zur Begrüßung.
    »Nein«, sagte sie. »Ich habe die Nacht überflogen.«
    Mit einer Kopfbewegung, die die gesamten Umstände seines Hierseins umfasste, antwortete Thomas: »Und ich überstanden.«
    Sie warteten gemeinsam. Gelegentlich kam die diensthabende Ärztin, übermüdet und mehr oder weniger übellaunig, und ließ verlauten, der Zustand des Patienten sei unverändert. Es könne noch Tage, wenn nicht Monate so weitergehen; sie lege den Angehörigen dringend nahe, sich zu Hause auszuruhen. Die Ärztin setzte hinzu, dass ein eventuelles Erwachen sich im Vorfeld ankündigen werde und die Familie rechtzeitig zur Stelle sein könne, sobald man aus dem Krankenhaus anrufe. Stefanie sprach schließlich aus, was, aus unterschiedlichen Gründen, alle gedacht, aber niemand gesagt hatte: »Es gibt hier nichts zu gewinnen. Wir müssen nichts beweisen, weder ihm noch uns.« Thomas atmete auf, als sie das sagte; sie besaß das Talent, vermeintlich schwere Beschlüsse achselzuckend zu treffen. Das war keine drüben erworbene Kompetenz; sie hatte sie von jeher gehabt. Sie passte damit gut in das Leben, das sie sich ausgesucht hatte, dachte er.
    Als sich Feldberg und seine Mutter, überzeugt durch diese Darlegungen, endlich durchgerungen hatten, die Krankenwacht in das Dahlemer Haus zu verlegen, und Thomas in der freudigen Erwartung einer Zahnbürste und eines Bettes seine Jacke aus dem Vorzimmer holte, trat ihm auf dem Flur jemand Bekanntes entgegen. Er brauchte eine Weile, um reagieren zu können, obgleich er schon im allerersten Augenblick keinerlei Zweifel mehr an ihrer Identität hatte. Es war Valerie.
    Als er sie zum letzten Mal gesehen hatte, vor fast drei Jahren, hatte sie noch eine andere Brille getragen, nicht das raumgreifende weinrote Hornmodell, das sie wie eine Schutzbrille trug. Die Rastafrisur war dieselbe, doch jetzt trug sie trotz des wärmer werdenden Wetters eine dicke Wollmütze darüber. Die Frau neben ihr war Thomas unbekannt, aber unzweifelhaft ihre Mutter.
    Die Bilder entfalteten sich rasend wie ein komprimierter Dateiordner, der sich selbsttätig entpackte. Seinerzeit hatte Thomas beschlossen, seine Approbation in der psychiatrischen Notfallambulanz nicht fortzusetzen, sondern sein zum Greifen nahes Leben zu ändern, noch bevor es richtig begonnen hatte. Valerie hatte sich damals selbst eingewiesen; nach knapp einer Woche hatte Thomas ihren Zustand für unbedenklich erklärt und sie wieder in das Haus ihrer Eltern entlassen. Die Tatsache, dass sein Lehrtherapeut Matthias ihn hinterher wieder und wieder zu beschwichtigen versucht hatte, dass man in einer Ausbildung Fehler machen dürfe und dass diese sogar erfahrenen Psychiatern mit zwanzigjähriger Berufspraxis unterliefen, konnte ihn ebenso wenig davon überzeugen, seine Ausbildung zu vollenden, wie Valeries Beteuerung, dass ihn keine Schuld an ihrem Selbstmordversuch treffe. Er hatte damals unmissverständlich entschieden, dass er sich fortan weigern würde, eine solche Verantwortung zu tragen, und dabei war es geblieben.
    So hatte er eine Weiterbildung zum Supervisor und Organisationsentwickler absolviert, danach kurz in der Mitarbeiterberatung einer großen Versicherungsgruppe gearbeitet, die intern »Stressambulanz« genannt worden war, und sich schließlich mit seiner Telefonberatung selbstständig gemacht. Seitdem bestand der ironische Ernst seines Lebens darin, die Glücksbilanz jener Finanzmenschen aufzuhübschen, von denen er sich einst aus eigener Überzeugung abgewendet hatte.
    Die Frage, ob er Schuld trug oder nicht, war irrelevant. Was zählte, war das, was geschehen war. Valerie hatte Schutz gesucht, den er ihr leichtfertig, ja hochmütig verwehrt hatte; an den Folgen dieser Entscheidung wäre sie beinahe gestorben. Das war geschehen.
    »Was tust du hier?«, fragte er. Er suchte, fand aber keinen Grund, der ihm ihr Erscheinen in diesem Krankenhausflur auch nur ansatzweise hätte plausibel machen können.
    »Ich bin mitgekommen«, sagte sie. »Meine Mutter hat mir gesagt, dass du hier bist.«
    »O-kay«, sagte er zögernd wie jemand, der Erläuterungen, gleich welche, grundsätzlich nicht verstand. Er kannte Valeries roboterhaft-irrlichternde Art, Geschehnisse zu schildern; damals hatten ihre Sitzungen in erster Linie in seinem Versuch bestanden, ihren Erlebnissen und Gedanken durch beharrliches Nachfragen eine Struktur zu verleihen. Jetzt erzählte sie ihm in nervös mäandrierenden Sätzen, dass sie in den letzten Tagen bei
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