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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar
Autoren: Sascha Reh
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entsprechend durchweichte Käsebrötchen erstanden hatte, deren Salatgarnitur ihr einziger Geschmacksträger war.
    Seine Mutter hatte gelächelt und gesagt: »Du gibst gut acht auf die alte Frau«, und so sehr er sich über den Versuch seiner Mutter gefreut hatte, ihren düsteren Ernst durch etwas Sarkasmus aufzuhellen, so konnte er, wieder einmal, den Grund ihrer Feindseligkeit nicht erkennen; er hatte es immerhin gut gemeint. Diese winzige Episode reichte aus, ihn derartig zu verstimmen, dass er für den Rest der Nacht, die er abwechselnd auf dem orangefarbenen Plastikstuhl und vor dem Kaffeeautomaten verbrachte, kaum ein Wort mehr sprach.
    Am Morgen fühlte sich Thomas, nachdem er viele Male mit verschränkten Armen und zur Brust sinkendem Kinn auf seinem Stuhl eingenickt und wieder aufgeschreckt war, verspannt und desorientiert. Bläuliches Licht hüllte die Intensivstation ein; Feldberg stand bei den Jalousien und starrte in den langsam sichtbar werdenden Lichthof der Klinik. Das gleichmäßige Piepen des   EKG   und das Pumpen des Beatmungsgeräts hatten sich nicht verändert; sein Vater lag anscheinend für alle Zeiten reglos da.
    Eine junge Pflegerin kam herein und kontrollierte die Infusion; Thomas, noch schlaftrunken, versuchte sie nicht zu beachten. Mit dem abgestandenen Geschmack im Mund, dem mutmaßlich wirren Haar und dem vom Schlaf knittrigen Hemd, das noch dazu seinem Vater gehörte, fühlte er sich peinlich ertappt. Er verließ den Raum.
    Draußen im Gang traf er seine Mutter an. Sie balancierte ihre Lesebrille auf der Nasenspitze und bemühte sich, eine Kurznachricht in ihr Telefon zu tippen. In ihrem Gesicht war neben der Anstrengung, die dieses Unterfangen ihr offensichtlich abverlangte, Sorge zu lesen.
    »Bist du schon lange wach?«, fragte er.
    »Ich habe nicht geschlafen.« Sie lächelte ihn an. Tröstlich, sorgenvoll, nachsichtig? – er hatte den Gesichtsausdruck seiner Mutter, so kam es ihm jetzt wenigstens vor, nie entziffern können. Sie schien immer an einem anderen Ort zu sein, einem Ort, an den sie niemanden mitnehmen konnte. Es war enervierend; Thomas machte längst keine Anstalten mehr, ihr dorthin, oder wohin auch immer, zu folgen. Er wollte sagen: Die Warterei zermürbt mich. Doch in seinem Geist entspann sich ein kleiner Dialog mit der Erwiderung, die seine Mutter darauf geben würde:   Die Warterei worauf? – Die Warterei ganz allgemein; dass etwas passiert. – Es wird aber nicht   etwas   passieren. Entweder er wacht auf, oder er stirbt.
    Stattdessen sagte seine Mutter: »Feldberg hat heute Morgen schon mit der Bank telefoniert. Sie haben die ganze Nacht damit verbracht, die Transaktionen durchzugehen.«
    Er nickte, als könnte er einschätzen, was das bedeutete. »Und?«
    »Es ist alles durcheinander.«
    Er deutete auf ihr Telefon. »Du darfst hier aber nicht telefonieren.«
    »Hier ist sowieso kein Empfang. Ich gehe nach draußen. Du hast nicht zufällig ein Ladegerät dabei.«
    »Ist das eine Frage?«
    »Nein, natürlich hast du keins. Ich bin ganz durcheinander.«
    »Du wirkst aber ganz ruhig.«
    »Was ist denn, Thomas? Glaubst du, mich lässt das alles kalt? In der Stiftung sitzen sechs Leute und warten auf Nachricht von mir, weil sie nicht wissen, wie es weitergeht. Judith ist völlig außer sich, sie erwartet ein Kind. Bei allen liegen die Nerven blank.«
    »Ich kann mir vorstellen, dass es dem Rest der vierhundert Alberts-Mitarbeiter nicht anders geht.«
    Eine unvermittelte Angriffslust stachelte Thomas an, Partei für etwas zu ergreifen, das ihn in Wirklichkeit kaum bewegte. Tausende von Bankern hatten im Laufe der Krise 2008 ihre Jobs verloren, und schon damals war es ihm gleichgültig gewesen, was aus ihnen werden würde. Er hatte für den Berufsstand nicht viel übrig, auch wenn er ihm die meisten seiner Klienten verdankte. So betrachtet konnte es ihn gänzlich unberührt lassen, wenn seine Mutter jetzt nur an diejenigen dachte, mit denen sie arbeitete und die ihr wichtig waren. Allerdings bekannte sie sich damit offen zu einer Geringschätzung seines Vaters, von der Thomas immer gefürchtet hatte, sie könnte auch auf ihn übergehen.
    Am späten Vormittag kam seine Schwester aus Chicago an. Thomas schloss für einen Moment die Augen, als er sie umarmte. Sie hatte ihr gesamtes Reisegepäck dabei und verströmte einen Geruch, der ihm auf verblüffende Weise zugleich ihre weite Reise und ihre gemeinsame Kindheit vergegenwärtigte.
    »Bist du sehr müde?«,
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