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Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen
Autoren: A Brasme
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Vergessen
    Ich hatte alles vergessen. Die Freude, die Schamlosigkeit, die Unbekümmertheit, die Gerüche, die Stille und die berauschenden Augenblicke, die Bilder, die Farben und die Geräusche, den Klang ihrer Stimmen, ihre Abwesenheit und ihr Lächeln, das Lachen und die Tränen, das Glück und die Ausgelassenheit, die Verachtung und das Bedürfnis nach Liebe, die Lebenslust meiner ersten Jahre.
    Doch aus dem hintersten Winkel dieser dunklen Zelle, aus der Kälte der Einsamkeit, taucht die Vergangenheit plötzlich wieder auf. Langsam und schmerzlich gibt sie sich zu erkennen. Vielleicht, um der Leere der Gegenwart zu trotzen. Wie Fotos, die nichts geworden sind, auf denen die Bewegungen unscharf erscheinen, steigen heute Bilder aus meiner Erinnerung auf und bersten hinter diesen Mauern in Stücke.
    In Wahrheit hatte ich nichts vergessen, doch bis heute war ich nicht bereit, es wieder zu finden.
    Mein Leben hätte ganz normal verlaufen können. Hätte ich mich anders entschieden, gliche meine Biografie heute einer der eurigen. Aber vielleicht war es im Grunde gar nicht meine Schuld: Ab einem bestimmten Punkt hat jemand Macht über mich gewonnen, und ich war nicht mehr fähig, mein Leben selbst zu gestalten. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Was weiß ich.
    Auf den ersten Blick erschien mein ganzes Dasein schal und belanglos. Ich lebte unter Menschen, die mich nicht wahrnahmen und die ich nicht verstand. Ich existierte, weil man mich dazu gezwungen hatte, weil es so war und nicht anders, ich musste mich damit abfinden zu leben, da zu sein, ohne aufzumucken. Schließlich war ich nur ein Kind wie jedes andere, ich lebte, ohne mir die kleinste Frage zu stellen. Ich nahm, was man mir gab, und ich forderte nichts. Und doch war das, was mir widerfahren ist, unausweichlich. Man kennt das: Die verrücktesten Leute sind auch die, die zunächst völlig normal erscheinen. Der Wahnsinn ist listig: Gerade die mit den Allerweltsgesichtern, die anscheinend ohne die geringste Sorge leben, befällt er als Erste. Das war mein Verhängnis. Heute verbindet mich nichts mehr mit dem unbekümmerten, lebhaften Kind von damals. Inzwischen stehen sich in mir zwei Ichs gegenüber, die ich nicht auseinander halten kann.
    Einmal hat mich jemand gefragt, ob ich bereue. Ich bin die Antwort schuldig geblieben. Vielleicht habe ich mich geschämt, nicht für das, was ich vollbracht hatte, sondern für das, was ich empfand. Ich hätte mir wie ein Unmensch vorkommen müssen, gewiss. Und das war ich unbestreitbar auch, aber weniger, weil ich ein Verbrechen begangen hatte, sondern weil ich meine Tat nicht bereute.
    Ich heiße Charlène Boher und bin neunzehn Jahre alt. Seit nunmehr fast zwei Jahren schimmle ich hier vor mich hin und warte, dass ein immer gleicher Tag kommt und vergeht. Kaum der Kindheit entwachsen, habe ich das Unumkehrbare getan. In der Nacht vom 7. auf den 8. September vor zwei Jahren habe ich getötet. Ich gebe es zu. Im Übrigen habe ich alles der Polizei erzählt. Ich war jung und, wie einige hinzufügen werden, »für eine sechzehnjährige Jugendliche noch unreif und ohne jedes moralische Empfinden«. Trotzdem habe ich nicht aus einem plötzlichen Impuls heraus gehandelt. Ich wusste ganz genau, was ich tat, ich hatte jede Kleinigkeit, alle Konsequenzen meiner Tat bedacht. Und wenn die Menschen um mich herum mich noch so sehr verachten und mir hasserfüllte Blicke zuwerfen, ich bereue nichts, damit wir uns richtig verstehen, nichts von all dem, was mein Leben zerstört hat. Dem Wahnsinn verfallen ist nicht nur ein unausweichliches Schicksal, sondern möglicherweise ein Entschluss.
    Wie auch immer, irgendwann habe ich sicherlich den Entschluss gefasst, nicht mehr über die Fehler der Vergangenheit nachzudenken. Ich bin aus Feigheit davongelaufen, weil ich mich weigerte, auf das Warum und das Wie meines Lebens eine Antwort zu geben, und weil ich mich hasste. Ich hatte Angst. Ich fürchtete den Schmerz, vor allem über das Unabänderliche, ich fürchtete die Wahrheit ebenso wie die Gewissensbisse, die Blackouts, das beklemmende Gefühl in der Brust, das einem den Atem nimmt, die Zweifel, die Empörung. Ich hatte ganz einfach Angst davor, nach meiner Verblendung plötzlich wieder die Augen öffnen zu müssen. Mit einem Wort, zu bereuen.
    Also habe ich beschlossen zu schreiben.
    Und mein Leben, meine fast schon banale, uninteressante Vergangenheit zu Papier zu bringen. Meine Geschichte hat in der trügerischsten Unschuld begonnen. Und
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