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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar
Autoren: Sascha Reh
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sie statt einer Begrüßung.
    Der Ratgeber zog sich in den hintersten Winkel des Wagens zurück.
    »Was meinen Sie mit ›weg‹?«
    »Das eben: er ist verschwunden. Ich weiß überhaupt nicht, was ich machen soll.«
    »Jetzt beruhigen Sie sich erst mal.«
    »Ich habe in der Bank angerufen, da haben sie ihn seit vorgestern nicht gesehen. Er hat seine Schlüssel und sein Telefon hier liegen lassen. Auf dem Küchentresen. Sie sagen, es hat einen Crash gegeben. Sie sagen, da ist ein riesiges Chaos.«
    Thomas drückte plötzlich eine bestürzende Ahnung die Atemluft ab. »Was wissen Sie noch?«, fragte er mit gepresster Stimme.
    »Sie sagen, sie könnten mir nichts sagen.«
    »Und … das heißt?«
    »Das heißt wohl, dass jemand bei Alberts Mist gebaut hat«, sagte sie und redete noch manches andere, bevor Thomas sie tonlos unterbrach: »Die Bank, für die Ihr Mann arbeitet, heißt Alberts?«
    »Ja. Warum?«
    Wenn es so etwas wie einen virtuellen Beratungsraum gab, in dem sie beide sich aufhielten, so hatte der Ratgeber ihn jetzt kommentarlos verlassen. Bernhard, dachte er. Alberts. Seine Gedanken blieben hinter dem Gespräch zurück wie ein abgekoppelter Waggon hinter dem weiterfahrenden Triebwagen. Er wurde langsamer und langsamer; die Landschaft wehte ihm kraftloser entgegen wie abflauender Wind; und bald stand er ganz still auf freier Strecke, ein paar leere Gleise vor sich, die sich zum Horizont hin verloren.

5
    Sol Moscot blickte sich mit abgeklärtem Interesse in dem Haus um, in dem er noch nie zuvor gewesen war. Nichts hatte sich verändert, seit Thomas vor vielen Jahren zum letzten Mal hier gewesen war. Er saß an dem großen ovalen Esstisch im Speisezimmer, das von der Küche durch eine immer offen stehende Flügeltür getrennt war. Durch die Gardinen floss helles Sonnenlicht.
    Er hatte am Hauptbahnhof, um keine Sekunde mehr in einem Bahnabteil verbringen zu müssen, ein Fahrrad gemietet. Sein Gepäck war in Siena eingelagert, nur die Laptoptasche mit seinen Arbeitsgeräten und kleiner Wechselwäsche hatte er mitgenommen. Als er nach fast einstündiger Fahrt hinaus nach Dahlem bei der doppelstöckigen Stadtvilla seiner Eltern angekommen war – Sol Moscot hechelte, die Zunge hing ihm seitlich aus dem Maul –, war sein Polohemd völlig durchgeschwitzt. Staub und Blütenpollen hatten sich auf dem Pullover gesammelt, seine Haare standen wirr und feucht von seinem Kopf ab; seiner gesamten Erscheinung haftete nun etwas geradezu Getriebenes an.
    Es war kurz nach Mittag. Das Esszimmer sah unverändert aus: die schweren geblümten Vorhänge, die beiseitegezogen waren, um das Sonnenlicht hereinzulassen, der große Esstisch aus Mahagoni, auf dem Stapel von Ordnern und Papieren ungeduldig an die Seite geräumt worden waren, seine Mutter, ihm gewohnt kerzengerade gegenübersitzend, die Hände flach auf den Tisch gelegt. Die Begrüßung war, wenigstens für ihre Verhältnisse, herzlich ausgefallen. Knapp, wortarm, aber herzlich.
    »Wie geht es dir?«, fragte er unbestimmt und mit dem Gefühl, sich wie auf Seife zu bewegen.
    »Es ist nicht zu ändern«, sagte seine Mutter.
    »Und wie geht es ihm?«
    Sie zuckte die Schultern. »Ich muss bald wieder hin«, sagte sie.
    Sie hatten schon immer auf diese Weise geredet. Es war, als ob man aus Trotz nicht in den Zug einstieg, auf den man lange gewartet hatte, bloß weil er sich verspätet hatte.
    Sie schwiegen. Dann fragte Thomas: »Wo, sagtest du, ist das passiert?«
    »In Schöneberg.«
    »Was hat er da gemacht?«
    Sie sah ihn an, als wollte sie ihn fragen, warum er das ausgerechnet sie fragte, und vermutlich war es auch so gemeint. Sie sagte: »In deinem alten Zimmer ist Platz.«
    »Ich habe mir ein Hotel genommen.« Er war noch nicht dazu gekommen, doch die Lüge ging ihm leicht von den Lippen; er wollte um keinen Preis in diesem Haus schlafen. Sie sah ihn an, in ihrer Miene war weder Enttäuschung noch auch nur Überraschung zu lesen. Er fügte dennoch, wie entschuldigend, hinzu: »Ich will dich nicht stören.« Das, natürlich, machte ihn vollends unglaubwürdig.
    Jede Minute hatte Thomas in seiner Jugend mit der Gewissheit gelebt, dass seine Zukunft feststand, ja, bereits ein Schicksal war. Er hatte sich in diesem Haus bewegt wie ein Hamster in seinem Laufrad, bis er ins Internat und später an die Universität abkommandiert worden war. An ein Zusammenleben konnte er sich nicht erinnern; solange er denken konnte, waren er und seine Schwester hier Gäste gewesen. Mit
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