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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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im Moment nichts weiter bedeutete, als dass er eben hier war und nicht woanders. Die Touristenströme schienen angesichts der Vorsaison noch übersichtlich; die creme- und ockerfarbenen Häuser, die die Via dei Termini säumten, hielten ihre Fensterläden noch geschlossen – nicht gegen den Lauf seiner oder irgendeiner anderen Geschichte, sondern vermutlich nur gegen den geräuschvollen morgendlichen Betrieb. Thomas dachte gleichzeitig zwei Gedanken, nämlich dass sein Hiersein absolut nichts bedeutete und dass man sich selbst überallhin mitnehmen musste. Daraus ergab sich fast notwendig die ernüchternde Einsicht, dass er ebenso gut hier sein konnte wie woanders und dass ferner alle Möglichkeiten, über die eigene Bestimmung nachzudenken, zugleich wahr und unwahr sein mochten; keine Geschichte war jemals etwas anderes als Legende.
    »Ist etwas passiert?«, fragte er seine Mutter.
    »Wie kommst du darauf?«
    »Wir telefonieren nicht oft miteinander.«
    »Nein. Das tun wir nicht.« Er erwartete, dass seine Mutter einen Hinweis auf die Tatsache anfügen würde, dass sich ihr Sohn außer an ihrem Geburtstag niemals bei ihr meldete. Der Hinweis blieb aus.
    »Geht es dir gut?«, fragte er. Auch diese Frage konnte er innerlich nicht unkommentiert lassen. Zwar lag ihr aufrichtiges Interesse zugrunde, doch hatte er bereits an ihrer Stimme erkannt, wie die Antwort ausfallen würde. Ein vertrautes Schuldgefühl bemächtigte sich seiner. Mit ebenso großer Routine wie es sich ihm aufdrängte, stellte er es wieder ab. Seine Mutter hatte inzwischen geantwortet; obwohl Thomas die Antwort überhört hatte, war er sicher, dass sie   Nein   gewesen war.
    Als Folge des Telefongesprächs saß er einige Stunden später im überfüllten Abteil eines Eurostar Italia Richtung Mailand und versuchte, sich zwischen all den Menschen, Stimmen und Geruchsmolekülen unauffindbar zu machen. Die Wagentoiletten waren aus unerfindlichen Gründen sämtlich verriegelt, das Bordrestaurant noch überfüllter als der Rest des Zugs. So blieb ihm nichts übrig, als sich im Verbindungsteil zwischen den Wagen mit dem Gesicht zur Tür zu stellen und sich auf das verwischte Buschwerk zu konzentrieren, das neben dem Fenster vorbeiflog. Sol Moscot, mit kleinen Seitenschritten die Schwankungen des Zuges ausgleichend, wich nicht von seiner Seite.
    Sein Transporter, dessen Reparatur man ihm binnen drei oder vier Stunden in Aussicht gestellt hatte, war, als Thomas ihn hatte abholen wollen, noch nicht einmal in die Werkshalle gefahren worden. Noch immer hatte er mit zersprungener Scheibe auf dem Garagenhof zwischen Alt- und Unfallwagen gestanden, deren Instandsetzung offenkundig seit Jahren aufgeschoben wurde. Der Mechaniker hatte ihm etwas mit bedauernder Miene erklärt, das Thomas nicht recht verstand; im Wörterbuch seines Smartphones übersetzte er das beständig wiederholte »sciopero« mit »Streik«; allerdings war kein Streik auszumachen, die Mechaniker waren in regem Betrieb; nach wiederholtem, mit »domani, domani« unterlegtem Kopfschütteln des Mechanikers hatte Thomas schließlich aufgegeben.
    Im Lautsprecher wurden die Anschlussverbindungen durchgesagt; Thomas löste seinen Blick nicht vom Fenster. Hinter ihm – ohne dass er zu sagen vermocht hätte, wo – lauerte die Angst. Er war sich Sol Moscots Nähe gewiss, doch das änderte nichts.
    Obgleich er nicht mehr wusste, wer von ihnen beiden – er oder sein Vater – letztlich ihren Kontakt beendet hatte, fühlte er sich allein verantwortlich. Er war es gewesen, der seinem Studium und der Bank den Rücken gekehrt hatte. Er war es auch gewesen, der seine Mutter an der Seite seines Vaters ihrer seelischen Isolationshaft überlassen hatte. Thomas konnte zwar behaupten, aus einer Art Notwehr gehandelt zu haben. Und tatsächlich erzählte seine Erinnerung von allerhand mildernden Umständen. Doch im Vergleich zu seinem Schuldgefühl verblassten sie so schnell wie die Landschaft vor seinem Abteilfenster.
    Vor vielen Jahren hatte er im Büro des Stammsitzes in Charlottenburg gesessen. Durch die Tür waren beständig Mitarbeiter ein und aus gegangen. An der Stirnwand hinter seinem Vater hing eines der expressionistischen Gemälde aus dessen umfangreicher Sammlung, für die Thomas keinen Sinn hatte. Ein ebenso schwerer wie dunkler Hartholzschreibtisch dominierte den Raum. Dahinter saß, oder vielmehr stand, sein Vater. Im Stehen unterzeichnete er Unterlagen, redete, ohne ihn anzusehen, mit seinem

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