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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar
Autoren: Sascha Reh
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Finanzbranche arbeitete. Er war Mitte dreißig und wickelte allerhand unstoffliche Geschäfte ab, die Thomas aufgrund seiner eigenen Vergangenheit vage einordnen konnte. Gewöhnlich rief Herr Dorfmeister einmal die Woche an und genoss die Aufmerksamkeit des Ratgebers, während er darüber klagte, wie das versprochene Wochenende mit seiner Frau zum wiederholten Mal ins Wasser gefallen war, weil die unsichere Marktlage ihn für seine Firma auch an diesem Wochenende wieder unersetzlich gemacht hatte. Der Ratgeber hatte diesen Konflikt ebenso wenig wie alle anderen lösen können, die Herr Dorfmeister ihm bisher angetragen hatte, und auch für die Zukunft war keine Lösung zu erwarten – mit Ausnahme der, die für Herrn Dorfmeister nun eingetroffen war.
    »Es tut mir leid, das zu hören.« Thomas hatte sich Schuhe und Mantel angezogen, da ihm nicht entgangen war, dass Sol Moscot zunehmend unruhig wurde. Der Hund hatte eine sehr vornehme Art, seine Unruhe zum Ausdruck zu bringen: Er trat von einer Vorderpfote auf die andere und senkte seinen Kopf zu einer Art Nicken, was als Unterwerfungsgeste fehlzudeuten Thomas sich vor langer Zeit abgewöhnt hatte. Jetzt schaute ihn der Hund unverwandt an, in der offenkundigen Erwartung, dass alle notwendigen Vorbereitungen zum sofortigen Ausgang getroffen waren.
    Während der Ratgeber erfuhr, dass Herrn Dorfmeister nicht einmal gestattet worden war, seine persönlichen Gegenstände aus seinem Büro zu holen, öffnete er seine Zimmertür lautlos um einen Spalt, durch den er in den Gang spähen konnte. Eben wollte er die Tür gänzlich öffnen und hinaustreten, da bogen zwei Gäste schwatzend um die Ecke, und er warf die Tür so schnell zu, dass sie laut ins Schloss fiel und Sol Moscot zusammenzucken ließ. Thomas fühlte den vorwurfsvollen Blick des Hundes und ermahnte sich, dass seine Furcht läppisch und nichts als ärgerlich war.
    »Sind Sie noch da?«, fragte Herr Dorfmeister.
    »Jaja, ich bin noch da« – dies, während Thomas die Tür erneut öffnete und Sol Moscot wie auch sich selbst regelrecht hinausscheuchte; hinaus auf die Straße, auf der ein scharfer Wind sich endgültig entschieden hatte, die Erinnerung an den lauen Nachmittag zu vertreiben. »Es sieht aus, als ob das ganze verdammte Kartenhaus einstürzt. Alle haben Angst. Ich habe keine Ahnung, ob ich überhaupt noch mal einen Job finden werde.«
    »Das tut mir wirklich leid für Sie«, sagte der Ratgeber, während er den Reißverschluss seiner Jacke zuzog. Zwar war dies eine bloße Wiederholung, und überdies stimmte es nicht, aber es war immerhin ein Satz, dessen Falschheit von niemandem zu beweisen war.
    Während er die Straße hinuntersah, fragte Thomas sich für einen kurzen Moment, wie er es in der Vergangenheit zuwege gebracht hatte, Interesse für die Probleme dieses Mannes bei sich zu erzeugen. Mehr noch: Er wunderte sich wie zum ersten Mal darüber, wie es hatte kommen können, dass der »Ratgeber« zu einer Art Spezialist für die Leiden dieser Menschen geworden war. Offenbar hatten sich seine Kompetenzen in der Branche herumgesprochen. Die Ressentiments, die er bereits in seinen frühen Erwachsenenjahren gegen Bankleute gehabt hatte, waren in den letzten beiden Jahren mit Macht zurückgekehrt. Dennoch, wenn er mit Vertretern dieses Berufsstands telefonierte, dann sprach er nicht mit raffgierigen Soziopathen, die durch skrupellose Termingeschäfte den Reispreis am Weltmarkt künstlich in die Höhe trieben. Er sprach nicht einmal mit Marktteilnehmern, sondern mit ganz gewöhnlichen Menschen, die sich in eine Falle manövriert hatten. Diese Menschen arbeiteten 14, 16 oder 18 Stunden am Tag, um die Privatschulen ihrer Kinder bezahlen und ihren sonstigen Lebensstandard aufrechterhalten zu können, der so hoch lag, dass sich Mitleid mit ihren Problemen eigentlich verbot. Doch es waren Probleme. Und ihr Lebensstil verdammte sie dazu, diese Probleme zu perpetuieren, ob sie wollten oder nicht – wie hoch auch immer am Ende die Kosten dafür ausfallen würden.
    »Sie haben Angst vor der Zukunft?«, fragte der Ratgeber, wobei er sich nun schnell und bestimmt den Gehsteig entlangbewegte, Sol Moscot hinter sich wissend, der konzentriert mit Laternenpfählen und Duftmarken beschäftigt war.
    »Ich habe keine Angst«, sagte Herr Dorfmeister, langsam zu seiner gewohnten Unbekümmertheit zurückkehrend oder diese wenigstens behauptend. »Bloß, das alles ist ungerecht. Die Leute haben jahrelang die Zinsen für ihre
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