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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar
Autoren: Sascha Reh
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ihr vollzogen hatte, nicht den echten Wunsch hatte, ihn zu verlassen. Der Ratgeber hatte noch im Kaffeehaus das Beratungsprotokoll in sein Notebook getippt: »Mantraartige Beschwörung der Trennungsabsicht stellt sich als Rationalisierung des tieferliegenden Wertschätzungswunsches dar.« Er hatte einen Verlängerten bestellt und einen Apfelstrudel, wie er es immer tat, wenn er in Wien war, so wie er in einer Tapasbar in Córdoba Russensalat aß oder Zuccotto in Florenz. Er saß am Terrassenfenster, das wegen des schönen Wetters weit geöffnet war. Zwei Spatzen flatterten neugierig und ohne Scheu auf der Fensterbank herum; Sol Moscot beobachtete sie liegend aus den Augenwinkeln. Thomas legte ihnen Krumen seines Apfelstrudels hin, die sie nach einer Reihe von strategischen Rückwärts- und Vorwärtsbewegungen schließlich davontrugen. Später versuchten sie, ihre verklebten Schnäbel in der Pfütze zu säubern, die ein Straßenreinigungsfahrzeug hinterlassen hatte. Der Anblick der badenden Vögel erfreute ihn.
    Die Bedienung war vor ihm aufgetaucht und wollte zum Schichtwechsel abrechnen; wie bereits am Mittag verkrampfte sich sein Körper, obgleich der Bezahlvorgang diesmal sogar in gegenseitigem Einvernehmen erfolgen sollte. Doch die Frage, ob und wie viel Trinkgeld angemessen sei; ob die Frau ein Lob des Apfelstrudels erwartete oder eine Entschuldigung dafür, dass er frei fliegendes Getier angelockt und gefüttert hatte; ob sich Thomas, wiewohl sich seine Gesichtszüge verhärtet anfühlten wie jahrtausendealtes Gestein, ein freundliches Lächeln abringen oder im Gegenteil durch ernste und abweisende Blicke signalisieren sollte, dass er für keinerlei Gedankenaustausch zur Verfügung stehe – all diese Fragen schnürten ihm die Kehle zu und machten ihm eine sinnvolle Handlung unmöglich. Jäh sprang er auf, warf der Frau einen Zehn-Euro-Schein auf ihr Tablett und griff seine Tasche; Sol Moscot hatte sich auf halber Strecke zwischen ihm und der Tür postiert, gleich einer Leibgarde, die den Rückzug sichert.
    Nach einer guten Stunde an der frischen Luft war ihm wieder wohler. Im 9. Bezirk fand er eine Unterkunft; er meldete sich beim Concierge an und trug seine Reisetasche nach oben.
    Er lebte mit leichtem Gepäck. All seine persönlichen Gegenstände passten in diese Tasche. Es waren dies neben Unterwäsche und Socken: drei Jeanshosen, zehn unifarbene Polohemden, fünf unifarbene Sweatshirts, zwei Paar feste Hikingschuhe und zwei Jacken (eine Winter- und eine Übergangsjacke); des Weiteren ein Paar Laufschuhe, zwei Sporthosen, zwei T-Shirts, Dusch- und Rasierutensilien, Nagelknipser, Nasenhaartrimmer, Zahnbürste, ein Smartphone, ein Notebook mit   TV -Receiver sowie passende Ladegeräte und ein Headset. Zurzeit führte er außerdem eine Biografie über Henry David Thoreau mit sich, die er nach dem Lesen – wie alle Bücher, die er las – auf dem Nachttisch seines Zimmers liegen lassen würde. In Hotelzimmern von London bis Prag, von Stockholm bis Palermo fanden die Zimmermädchen seine stets noch neuwertigen Bücher auf den Beistelltischen und Kommoden als einzige Überreste seiner Anwesenheit, wie eine abgestreifte Haut.
    Den Nachmittag im Hotelzimmer verbrachte er, nachdem er Sol Moscot unauffällig in sein Zimmer gelotst hatte, mit einer Reihe von Verrichtungen, die ihm inzwischen zu einer vertrauten, wohltemperierten Routine geworden waren. Er hatte die Honorarrechnungen für die Beratungen des letzten Monats, die er in einem Copyshop ausgedruckt hatte, frankiert und bereitgelegt; später, wenn er seine Abendrunde mit dem Hund ginge, würde er sie einwerfen. Er hatte die getragene Kleidung in einen Beutel mit schmutziger Wäsche gesteckt, die er bei ausreichender Menge waschen würde. Er hatte seine Finger- und die Fußnägel geschnitten, seine Haare bis auf sechs Millimeter rasiert und danach eine halbe Stunde meditiert. Vor seiner letzten Beratung am Abend verschaffte er sich eine Terminübersicht über den nächsten Tag und sah zur Entspannung fern. 
    Er hatte gerade geduscht und vermieden, sein dunstverhangenes Spiegelbild anzusehen – die Silberpunkte an seinen Schläfen, die leicht schiefe Nase, die nicht in dieses aristokratisch feine Gesicht passen wollte –, da signalisierte Sol Moscot ihm, dass er einem dringenden Bedürfnis nach draußen zu folgen habe. Gleichzeitig klingelte sein Telefon.
    »Sie haben mich gefeuert«, sagte Herr Dorfmeister, der wie die meisten seiner Kunden in der
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