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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar
Autoren: Sascha Reh
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Spareinlagen eingestrichen, und niemand, kein Schwein, ist je auf die Idee gekommen, danach zu fragen, wo all dieses Geld hergekommen ist. Wenn alle verdienen, sind alle zufrieden. Aber das jetzt …«
    Die Straße war dunkel und leer. Thomas war stehen geblieben. Es war unnütz, dachte er mit plötzlicher Klarheit. Nicht nur dieses Gespräch – alles Wollen und Streben war unnütz, war es schon immer gewesen. Der Befund war bewiesen; wie hatte er ihn so hartnäckig ignorieren können?
    Herr Dorfmeister sagte jetzt: »Wissen Sie, ein Teil von mir ist froh. Jetzt, wo es vorbei ist, denke ich mir: Das konnte gar nicht gutgehen. Fondsverwaltung ist wie ein Marathon, bei dem die Leistung alle hundert Meter evaluiert wird. Natürlich sprinten alle.«
    »Ja. Ich verstehe.«
    »Irgendwann geht jedem die Luft aus.«
    »Was werden Sie jetzt tun?«
    »Ich werde wieder mehr Zeit mit meiner Familie verbringen. Was meinen Sie?«
    »Ja«, sagte der Ratgeber, der sich gleichwohl darüber im Klaren war, dass er, um sein hohes Honorar zu rechtfertigen, einen ganzen Satz, womöglich sogar zwei, hätte hinzufügen sollen, einen Satz von unbestreitbarer Qualität und Wahrheit, der Herrn Dorfmeister davon überzeugte, dass der Ratgeber für Situationen wie diese professionell gerüstet war. Abermals schweiften seine Gedanken ab. »Ja, tun Sie das«, brachte er schließlich hervor.
    Als er zur Pension zurückgekehrt war, wurde Thomas am Empfang vom Nachtportier gestellt und in ein Gespräch darüber verwickelt, dass Hunde im Hause nicht erlaubt seien. Vor dieser Art von Problemen gelangte er regelmäßig zu der Einsicht, dass der direkte Kontakt zu Menschen noch immer zu den erschöpfendsten Aspekten seiner Lebensweise gehörte. Sol Moscot, als bestätige er jedes Wort als vollkommen zutreffend, folgte aufmerksam seinem heillosen Monolog: »Entschuldigung, aber ich muss, wirklich, den Hund, das ist jetzt keine Bedingung, aber ich bin sonst völlig … Er ist stubenrein, der ist wahrscheinlich sauberer als so mancher Ihrer … oh nein, damit wollte ich jetzt nichts über Ihr, entschuldigen Sie, ich wollte nur, der Hund ist wirklich,   wirklich   sauber, der haart nicht mal, ich sage es Ihnen, wie es ist, ich muss meinen Hund, also, nicht dass ich verrückt wäre, ich bin sogar Psychologe, aber das sind ja oft die mit dem größten Sprung in der, wie man so sagt, ich habe nur, gelegentlich, Panikattacken, also wenn Sie so freundlich wären, nur dies eine Mal …«
    Dies alles war demütigend; der durchschaubare Appell an Mitgefühl und Verständnis Unbekannter ließ ihn sich billig und gemein fühlen, als wäre er ein Trickbetrüger. Seine gepflegte Erscheinung und die unterwürfig-hilflosen Argumente bescherten seinen Verhandlungen zwar ausnahmsweise Erfolg; jedoch war dieser, wie Thomas, auf seinem Zimmer angelangt, spürte, zum Preis fast völliger Selbstentblößung erkauft. Er legte sich ins Bett, löschte das Licht und fragte sich, nicht zum ersten Mal, was er in dieser Stadt, ganz gleich welcher, am Ende eigentlich anzufangen hoffte.
    3
    Drei Tage darauf saß er an der Piazza Salimbeni in Siena. Das Display seines Smartphones, durch dessen Kamera er den prächtigen mittelalterlichen Palazzo begutachtete, belehrte ihn per eingeblendeter Textanzeige, dass es sich um die Banca Monte dei Paschi di Siena handelte, gegründet 1472, damit das älteste unabhängig gebliebene Bankhaus der Welt.
    Während Thomas seinen Espresso trank und gedankenverloren ein Foto von der hufeisenförmig umschlossenen Piazza aufnahm, wartete er darauf, dass die Werkstatt ihm die Reparatur seiner Windschutzscheibe melden würde; auf der Autostrada Azurra war ihm eine Drossel hineingeflogen. Sein Telefon klingelte. Es war nicht die Werkstatt, sondern seine Mutter, die ihn seit beinahe einem Jahr nicht mehr angerufen hatte.
    »Tommi«, sagte seine Mutter. Der Name hallte lange in ihm nach, gleich einer ungeliebten, aber aufdringlichen Melodie. Er mochte weder seinen Vornamen noch dessen Koseform, die ihn auf komplexe Weise daran erinnerten, warum er vor vielen Jahren sein Elternhaus und seine Heimatstadt hinter sich lassen musste. Wie um der Legende, als die er diese Auslegung sogleich entlarvte, eine glaubwürdige Alternative an die Seite zu stellen, dachte er, warum er vor vielen Jahren seine Mutter im Stich gelassen hatte.
    Es war ein nur leicht bewölkter Freitagmorgen in einer kleinen italienischen Stadt, die für den Lauf der Geschichte des Ratgebers
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