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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar
Autoren: Sascha Reh
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Kursbewegungen angezeigt wurden.
    »Nein, so siehst du nicht aus. Aber es ist wichtig.«
    »Wichtig?«, fragte sein Vater und richtete sich für einen Moment auf. »Es ist   wichtig ? Was glaubst du, was ich hier mache? Drehe ich Däumchen? Ewald, drehen Sie Däumchen?«
    »Nein, Herr Alberts.«
    »Bornemann, haben Sie den Eindruck, der Abwicklung bei Lensing gebricht es an Wichtigkeit?«
    »Mit Verlaub, Herr Alberts, ich –«
    »Bornemann?«
    »Durchaus nicht, Herr Alberts.«
    »Und was würden Sie sagen, wenn ich Sie jetzt alle mal für eine halbe Stunde hier stehen lasse, mir ein Tässchen Tee eingieße und in aller väterlichen Seelenruhe anhöre, wo meinen Herrn Sohn der Schuh drückt?«
    Niemand antwortete; als sei die Erwähnung des Worts ein Schlüsselreiz gewesen, betrachtete man Schuhe.
    »Mich drückt nicht der Schuh«, sagte Thomas, der angesichts dieses inszenierten Tribunals seinen aufsteigenden Zorn nicht länger zurückhalten mochte. »Du mischst dich in meine Angelegenheiten. Du hast Carolin angerufen, ohne mit mir zu reden. Du mischst dich in meine   Beziehung   ein. Ist das unwichtig? Würde irgendjemand von Ihnen, meine Herren, diese Einmischung in die eigene Privatsphäre als unwichtig bezeichnen?«
    »Es ist wohl kaum der richtige Ort, Thomas, um das zu besprechen.«
    »Da bin ich ganz deiner Meinung.«
    »Ich habe dir die Gründe für meine Entscheidung bereits im Einzelnen dargelegt. Mehr ist dazu nicht zu sagen.«
    »Für deine Entscheidung? Was bitte hast du daran zu entscheiden?«
    »Ich bin dein Vater. Und du hältst den Betrieb auf. Also Schluss damit. Feldberg, ich –«
    »Sie ist meine Freundin. Wir wollen zusammenziehen.«
    »Das ist nicht gesagt«, sagte sein Vater, ohne aufzusehen.

4
    Im Intercitynotte, den er am Abend in Mailand bestieg, buchte er eine überteuerte Zweierkabine für sich und Sol Moscot und versuchte zu schlafen. Er träumte verworren: von seinen Eltern, seiner Kindheit, der Stadt, in der er aufgewachsen war. Es war nur die Blaupause eines Traums, die einzelnen Elemente standen wie Telefonkritzeleien nebeneinander. Sein Vater war ein bestimmender Mann: Als er das dachte, musste Thomas sich daran hindern, ein »gewesen« anzuhängen. Er trauerte noch nicht, und es erschreckte ihn, nicht zu wissen, ob er dazu fähig sein würde, wenn es so weit war. Auch seine Mutter würde es wohl nicht tun. Sie würde so allein sein, wie sie schon immer gewesen war. Sie würde wie ein Astronaut, dessen Verbindungsleine zum Shuttle gekappt worden war, durch den Rest ihrer Jahre schweben.
    In München, früh im Morgengrauen, hatte er eine knappe Stunde Aufenthalt vor der Weiterfahrt nach Berlin. Er spürte seinem Zeitgefühl hinterher; wann war er zum letzten Mal hier gewesen? Der Gedanke verblasste, ohne irgendwohin zu führen. Es spielte keine Rolle. Die Städte, in denen er lebte – manchmal eine, seltener zwei in der Woche –, gingen ineinander über, verbunden durch die Leitplanken, die sich neben dem Seitenfenster seines Transporters zu entrollen schienen. In einem Straßencafé im Marais trank er seinen Kaffee nicht anders als im Kopenhagener Hafenviertel. Die Musikalität der Sprachen unterschied sich, das Wetter, die Spezialitäten. Aber wenn man die Dinge in ihrem Wesen sah, wie es ihr häufiger Wechsel erforderte, dann nahm man kaum mehr die Unterschiede, sondern nur mehr das Gemeinsame wahr.
    Und doch reizte Thomas an den Städten wiederum nicht das Gleiche, sondern das Andersartige, regional Besondere, Einzigartige. Während er sich in seiner mitgebrachten, transportablen Welt bewegte, diente die Fremde ihm als Kulisse. Er ließ sich nicht ein, er spielte nicht mit, er lebte an den Menschen vorbei. In der Masse störten und ängstigten sie ihn; dennoch hielt er sich ausschließlich in großen Städten auf, nicht auf Bornholm, nicht in der Weite der Masuren oder der schottischen Highlands. Er hasste die Stille, wenn es keine Alternative zu ihr gab.
    Im Zug nach Berlin schließlich schloss er sich, so lange es ging, in der Toilette ein, bis eine Zugbegleiterin kam und die Tür von außen zu öffnen versuchte. Er entschuldigte sich stammelnd mit einem Magenproblem, zeigte seine Fahrkarte und wechselte in den Speisewagen, der fast leer war. Kurz vor Berlin klingelte sein Telefon.
    Es war Frau Sudek.
    Üblicherweise erteilte er an Sonntagen keinen Rat. Da er jedoch wusste, dass sie dies wusste, musste es sich um einen Notfall handeln.
    »Bernhard ist weg«, sagte
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