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Werwelt 01 - Der Findling

Werwelt 01 - Der Findling

Titel: Werwelt 01 - Der Findling
Autoren: Robert Stallman
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1

    Ich bin und ich werde sein.
    Es gibt keine Zeit,
    zu der ich nicht bin.
    Dies ist die erste Lektion.
    Mein Bedürfnis schafft mein Selbst.
    Dies ist die zweite Lektion.
    Alleinsein ist sicher sein.
    Dies ist die dritte Lektion.

    Augen sehen nichts in der Schwärze des Heubodens. Die Taube, deren Nest ich soeben geplündert habe, kann mich nicht sehen, doch ich nehme klar und deutlich ihre atmende, fleischige Gestalt wahr. Sie sitzt auf der stählernen Querstange des Heurechens, der von der Mitte der Decke herabhängt. So hoch kann ich nicht springen. Mich gelüstet jetzt nach ihr, wo meine Gier geweckt ist, und obwohl ich leicht durch das Loch im Boden schlüpfen und mir ein oder zwei Hühner holen könnte, will ich die Taube haben. Ich warte, unter dem Sims zusammengerollt, auf dem das zerfledderte Nest sitzt. Ein Strick hängt von der Heugabel herunter. Er ist an der Mauer über meinem Kopf befestigt. Wenn ich ihn in Bewegung setze, wird die Taube zu ihrem einzigen Ausschlupf flattern, der Luke unter den Giebeln nicht weit von ihrem Nest. Sie wird nicht abwärts fliegen zu dem Loch im Fußboden, wie das vielleicht ein Sperling tun würde. In der Finsternis wird sie vielleicht sogar gegen eine Wand prallen und betäubt zu Boden fallen. Ich schleiche hinüber zu dem Strick und schlage leicht danach, so daß er in Bewegung gerät. Die Taube flattert auf.
    Jeder Flügelschlag erzeugt eine kleine Druckwelle, die sich zu den Wänden des riesigen Heubodens hin ausweitet. Blind in der Dunkelheit, befindet sie sich im Mittelpunkt einer sich recht hübsch ausnehmenden Anordnung von konzentrischen Druckwellen, die ich unmittelbar aufnehme. Sie wirkt wie aufgespießt, das lebendige Auge im Sog ihrer eigenen Flügelschläge, pulsierendes Leben im Zentrum eines sich kräuselnden Netzes. Sie schwenkt seitwärts, als ihre Sinne begreifen. Sie flattert zu der Luke unter den Giebeln. Ich könnte sie vorher herunterholen, aber es macht Spaß, hochzuspringen und sie mit der Tatze zu packen. Ich reiße sie aus dem Mittelpunkt ihres Netzes und beiße flink zu. Sie ist warm und gut. Der Wohlgeschmack fesselt die Aufmerksamkeit so sehr, daß der Bauer mich überrascht, während ich daliege und mir die Federn aus den Zähnen zupfe.
    Plötzlich spüre ich ihn am Loch in der Mitte des Fußbodens. Er trägt eine Mistgabel aus Stahl, die vier Zinken hat. Er hebt seine Taschenlampe, und ich lasse mich hinter den Heuhaufen rollen, auf dem ich gelegen habe. Viel Heu ist um diese Jahreszeit nicht mehr da.
    »Also los, kommen Sie da raus«, ruft der Bauer, und der starke Strahl seiner Lampe streicht über mich hin, hart und blendend in der staubgeladenen Luft. Ich schließe die Augen und halte meinen Raumsinn auf ihn gerichtet. Seine Gestalt steht brusttief in dem Loch. Seine Stimme ist verzerrt von Schwingungen der Angst, aber er ist entschlossen.
    »Los, kommen Sie jetzt da raus«, sagt er, »sonst schließ ich Sie ein und ruf den Sheriff. Sie haben die Wahl.«
    Die Ausdünstung seiner Angst ist so stark, daß meine Nase sich kraust, obwohl er an die zwanzig Fuß entfernt sein muß. Jetzt werde ich von dem Gebrauch machen, was man mich gelehrt hat. Während ich dem Atem des alten Bauern lausche, spüre ich nach der geeigneten Gestalt und ziehe mein ganzes Selbst zu einem winzigen, isolierten Punkt zusammen, ähnlich dem Sonnenlicht, das in einem Brennglas gebündelt wird. Mein Fell stellt sich auf, und ich sehe den funkelnden Punkt, in den ich hineinfalle, während ich den Namen sage, der mir kommt: Robert Lee Burney. Ich verwandle mich.
    Und ich nahm den Bauern anders wahr, größer und drohend. Ich fühlte mich gefangen unter schweren Höhlen; mein Raumsinn war ausgelöscht, mein Gehör stumpf, und mein Auge war auf den Lichtstrahl angewiesen, der die Wände absuchte. Furcht überwältigte mich in dieser Gestalt. Ich zog mich zurück, um den Menschen heraustreten zu lassen, und Robert stieß einen Schrei aus, der seltsam klang, ein hilfloses Schluchzen.
    Der Bauer hörte auf zu reden und richtete den Lichtstrahl auf den Heuhaufen, hinter dem Robert Burney kauerte und weinte.
    »Ist das ein Kind da oben?« Er hielt die Lampe ganz ruhig und kam noch eine Sprosse die Leiter herauf. »Komm raus und laß dich sehen.«
    Noch benommen von der Geburt, rappelte Robert sich hoch und trat hinter dem Heuhaufen hervor. Das Licht sprang grell in seine Augen. Er weinte und zitterte, war nackt.
    Der Bauer trug den kleinen Jungen ins Haus, und die beiden
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