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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar
Autoren: Sascha Reh
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eigenen Zimmern zwar, doch zwischen der unverbindlichen Gastfreundschaft der Mutter und der strengen Abwesenheit des Vaters niemals etwas anderes als Gäste.
    »Wie geht es Stefanie?«, fragte Thomas, um etwas zu sagen. Er hatte bereits mit seiner Schwester telefoniert und erfahren, dass sie einen Flug für den nächsten Tag gebucht hatte. Über die Nachrichten aus der Heimat hatte sie aufrichtig erschüttert geklungen. Thomas hingegen musste sich anstrengen, um etwas wie Bedauern oder Mitleid aufzubringen, und wenn schon nicht dies, dann wenigstens Resignation, weil er als Sohn nun keine Trauer und keinen Schmerz fühlte.
    »Ist er ansprechbar?«, fragte er jetzt.
    Seine Mutter schüttelte den Kopf. Noch immer lagen ihre Hände unbeweglich auf dem Tisch; es waren schöne Hände. Sie sah aus dem Fenster.
    »Es ist vielleicht besser so«, sagte sie. »Dass er das alles nicht mehr mitbekommt.«
    »Ja«, sagte Thomas. »Vielleicht.«
    In die Stille des Krankenzimmers piepte das   EKG   einen gleichmäßig schwachen Takt. Die Augen seines Vaters waren geschlossen; der Oberarzt, der bei ihrem Eintreffen gleich gerufen worden war, klärte sie über die besondere Form des Komas auf, das zwar leichte Hirntätigkeit, gegenwärtig aber keinerlei Aussicht auf Änderung erkennen lasse. Die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn sei infolge des Schlaganfalls mehrere Minuten unterbrochen gewesen.
    Das Beatmungsgerät blies regelmäßig Leben in seinen Vater hinein, das sich nach jedem Stoß in große Stille verlor. Feldberg, der Generalbevollmächtigte der Bank, begrüßte sie mit knappem Handschlag und jener genau abgezirkelten Bestürzung, zu der Thomas nach wie vor unfähig war. Der abgestandene Geruch im Zimmer stieß ihn ab. Er setzte sich auf einen orangefarbenen Plastikstuhl neben dem Bett und stand gleich wieder auf, weil seine Mutter sich leise mit Feldberg unterhielt und Thomas unschlüssig war, ob er an einer solchen Unterredung nicht teilnehmen müsse. Der Anblick seines Vaters, den man in ein herkömmliches Krankenhemd gekleidet hatte, die Beatmungsgeräte und Infusionsschläuche, dies alles entmutigte ihn. Zeit seines Lebens hatte er seinen Vater als einen Mann wahrgenommen, der die Dinge steuerte und kontrollierte. Das Bild des Liegenden konterkarierte diese Legende aufs deutlichste und vermittelte Thomas den ernüchternden Eindruck, er habe allzu bereitwillig an eine nicht einmal besonders ausgefeilte Täuschung geglaubt.
    Feldberg, der ein stiller Mann ohne jegliche Neigung zu impulsiven Handlungen war, teilte seiner Mutter kaum hörbar mit, dass die Lage in der Bank unübersichtlich sei. Der Short Squeeze habe das gesamte Eigenkapital aufgezehrt. Die Leitung des Anleihenrückkaufs sei Herrn Holt in Frankfurt übertragen worden; er sei es auch, der mit der BaFin in Kontakt stehe. Seiner belegten Stimme entnahm Thomas mehr noch als seinen Worten, dass die Lage unermesslich bedrohlich war.
    Thomas war dankbar für die Gelegenheit, Feldberg vor den Eingang zu folgen, wo dieser eine Zigarette rauchte. Er hatte den Mann immer gemocht. Feldberg hatte etwas essentiell Buchhalterisches an sich, das sich in der Förmlichkeit seiner Manieren sowie der scharfen Habichtnase allerdings längst nicht erschöpfte. Die selbst gedrehten Zigaretten, die er von jeher rauchte, passten zu dieser grundseriösen und dezidiert steifen Erscheinung ganz und gar nicht. Er wusste, dass Feldberg immer der engste Vertraute seines Vaters gewesen war und über die Geschäfte der Bank so viel wusste wie sonst nur dieser.
    »25.367 und 414.698«, sagte Thomas. »Minus 31.026.«
    Das Ergebnis kam, ohne dass Feldberg ihm überhaupt zugehört zu haben schien: »409.039.« Es war eine Art Sonderbegabung; Thomas hatte ihn dafür immer bewundert. Er nickte anerkennend. »Haben Sie eigentlich jemals mit dem Gedanken gespielt, in einem Zirkus aufzutreten?«, fragte er Feldberg, der still und gleichmäßig die Zigarette zum Mund führte und den Rauch mit geblähten Wangen in die klare Frühlingsluft ausstieß. Vögel, die in den noch kahlen Bäumen der Charité-Begrünung saßen, wagten zaghafte Singproben.
    »Nein«, sagte er und lächelte ein fast völlig humorloses Lächeln. »Wie kommen Sie darauf, Herr Alberts?«
    Thomas missbehagte diese Anrede. »Sie haben mich damals noch Tommi genannt. Sagen Sie Thomas. Bitte. Ich bin kein Alberts.«
    »Das sollten Sie nicht sagen. Wirklich. Sie sind ein Teil dieser Familie, auch wenn Sie sich für einen anderen Weg
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