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Flammenopfer

Flammenopfer

Titel: Flammenopfer
Autoren: Joerg Liemann
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1
    » Herr Wachtmeister, hier muss etwas gemeldet werden. Schreiben Sie das mit, Herr Wachtmeister.«
    » Ich höre Sie. Aber Sie sind mit der Telefonseelsorge verbunden.«
    » Schreiben Sie auf, was ich Ihnen sage. Es ist wichtig. Sie müssen das protokollieren und Ihren Vorgesetzten zutragen.«
    » Haben Sie verstanden, dass Sie mit der Telefonseelsorge sprechen? Ich bin ein Mitarbeiter der Telefonseelsorge.«
    » Ich sitze hier und beobachte. Ich kann nicht aufstehen, verstehen Sie? Verstehen Sie, dass Sie mit einer Frau sprechen, deren Beine bewegungsunfähig sind? Ich beobachte diese Tür, die ganze Zeit diese Tür, Herr Wachtmeister. Sind Sie da?«
    » Ja, ich höre Sie.«
    » Es ist wichtig, dass Sie das weitergeben. Diese Leute haben das Fleisch in der Tür, das Fleisch in den Türrahmen. Die Hausverwaltung entfernt es nicht. Ich kann nicht herankommen. Ich sehe das. Früher konnte ich mich persönlich kümmern. Mein Mann war immer zur Stelle, wenn etwas vorgefallen ist, verstehen Sie? Er war Offizier, mein Herr! Er hatte eine Uniform. Sehr korrekt, immer zur Stelle. Er hätte der Hausverwaltung gesagt, wo es langgeht. Schreiben Sie das mit. Es soll nicht verloren gehen. Und beeilen Sie sich. Es ist gefährlich. Hören Sie mich?«
    » Was ist denn gefährlich?«
    » Das fragen Sie? Warum hören Sie nicht zu? Was sind Sie für ein Beamter, der den Leuten nicht zuhört! Aus dem Türrahmen kommt das Fleisch. Es quillt schon raus. Die haben alles damit abgedichtet. Die Hausverwaltung hat es sich mal wieder einfach gemacht! Es blutet an allen Ecken und Kanten. Glauben Sie, ich freue mich darüber? Ich beobachte es. Und ich kann mich nicht bewegen. Und wenn die Hausverwaltung vorbeikommt, dann unternimmt sie nichts. Außer dass sie die Türen abdichten. Jetzt wundern sie sich, wenn es blutet. Durch den Boden durch. Das gibt Renovierungskosten, da werden die sich noch mehr wundern. Es ist so, Herr Doktor, es ist alles wund. Das ganze Fleisch. Sie werden mir das bestätigen, das Fleisch ist krank. Es war von vornherein krank. Die haben mir das nicht geglaubt. Die Tür geht nicht mehr von alleine zu, das blutet alles aus. Wenn die Tür nicht schließt, kann jeder hereinkommen. Meine Beine versagen den Dienst. Ich werde überfallen und totgeschlagen wie ein räudiger Hund. Kennen Sie den Ausdruck, Herr Doktor? Wie ein räudiger Hund? Das Fleisch ist räudig. Dann müssen Sie ihm das Bein abnehmen, nach dem Unfall. Es blutet nach und hört nicht auf, und dann müssen sie ihm auch das zweite Bein abnehmen. Damit füllen sie den Türrahmen. Der Hund kann nicht mehr laufen. Verstehen Sie. Dann können sie ihm gleich alle Beine abnehmen. Und mich können sie auch erschlagen wie einen räudigen Hund. Das interessiert keinen, Herr Wachtmeister, keiner unternimmt etwas. Meinen Mann haben die erschlagen, und es hat keine Menschenseele interessiert. Sie haben ihm die Beine genommen wie einem räudigen Hund. Hören Sie mir zu?«
    » Ja. Haben Sie …«
    » Lassen Sie das! Lassen Sie die dummen Fragen. Glauben Sie, ich bin hier, um mich von Ihnen ausfragen zu lassen? Ich habe das alles schon zu Protokoll gegeben. Machen Sie Ihren Vorgesetzten Meldung, und nehmen Sie Ihre Tabletten!«
    » Wie ist das mit den Medikamenten?«
    » Mein Mann achtet darauf, dass alles seinen geregelten Gang geht. Warten Sie mal, ich muss kurz mit dem Doktor sprechen. Ich muss ihm Bescheid geben. Ja, Herr Doktor, das können Sie so machen. Ja, das geht so, jetzt kümmern Sie sich wieder um Ihre Patienten! Ich sehe mir gleich an, was Sie angerichtet haben. So, jetzt bin ich wieder da. Haben Sie alles im Protokoll vermerkt, haben Sie alles? Wie? Die Verwaltung kümmert sich um keines Menschen Seele und um keines Menschen Leib. Sie reißen sie in Fetzen, wenn sie hereinkommen. Ich sehe das durch meine Jalousie. Da sitzen sie und kommen zu mir herein. Die kennen nicht den Krieg. Glauben Sie, dass man einem Offizier das Bein abnehmen darf? Ist das eine Frage der Ehre, mein Herr? Können sie ihm die Beine rausreißen wie einem räudigen Hund, alles in Fetzen, dürfen die das, bei einem Offizier? Das trauen sie sich doch nur im Krieg, da fällt es nicht auf, verstehen Sie? Die warten hinter den Jalousien. Mich wollen sie, weil ich laufunfähig bin. Sie haben meinen Mann, und jetzt wollen sie auch mich. Dabei können sie nicht einmal eine Tür abdichten. Das liegt doch klar auf der Hand. Na, ich nehme an, mein Herr, Sie kennen sich nicht aus in diesen
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