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Flammenopfer

Flammenopfer

Titel: Flammenopfer
Autoren: Joerg Liemann
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Angelegenheiten der Ehre.«

2
    Anselm Jarczynski zischte sein Spiegelbild an. Er betrachtete die weißen Zähne und klopfte sie einzeln ab. Mit beiden Mittelfingern strich er sich die Augenbrauen glatt, dann schaltete er das Licht im Bad aus und tauchte wieder in den Beat des Wohnzimmers ein.
    Er legte den Kopf in den Nacken. Auf der Sessellehne stand, ruhig von ihm gehalten, das Whiskyglas. Er versuchte, sich ein Musikvideo zu der CD vorzustellen, die er hörte. Wenn man die Elektronik durch Geigen ersetzte, wenn man ihre Bögen rhythmisch zucken sähe, und wenn die Kamera in ein Meer von Violinenbewegungen gleiten würde, immer nur für drei Akkorde, wenn der Schnitt zurück zur Sängerin ginge und sie unbeweglich neben einem Mann stünde, wenn sie mit dem härter schlagenden Beat zu tanzen beginnen würde, immer schneller die Tänzerin und die Geigenbögen, und wenn im Finale ein einziges Tanzen unzähliger Paare wäre … Die eine Hand schlug den Takt, während die andere den Whisky schützte.
    Mein Alleinsein tötet mich. Ein Text zum Wegwerfen. Anselm Jarczynski trank einen Schluck.
    Mit dem Glas in der Hand stand er auf, schaltete den CD-Player aus und lehnte sich gegen den Rahmen der Balkontür. Aus der Nacht stieg warmer Wind auf. Straßenbahngeräusche – aus dem Bauch der Stadt. Er fragte sich, ob das ein Zitat war: Aus dem Bauch der Stadt.
    Gute Entscheidung, nach Berlin zu gehen. Wo sonst ist so viel in Bewegung? Welche Stadt in Deutschland – außer dieser – macht nachts Lebensgeräusche? Mechanische Lebensgeräusche, als wäre sie ein Wesen, das sich im Dunkeln hin und her wälzt und nicht schlafen kann.
    Eine Straßenbahn bremste. Das Eis war geschmolzen.
    Das nächste Glas war voll. Voll Eis und voll Whisky. Was man so randvoll nennt. Ich habe etwas zu feiern, dachte er. Ich feiere meinen Entschluss, in Berlin neu anzufangen. Ich habe alles erledigt, was ich erledigen wollte: Die Maler sind mit der Wohnung fertig, noch vor dem Verputzen der Außenwände. Oder wie immer es heißen mag, wenn der Holzaufbau isoliert und mit Aluminium eingekleidet wird. Früher mussten Wohnungen trocken gewohnt werden, heute setzen sie so ein Penthaus in drei Tagen auf ein altes Haus, und man fängt an, darin zu leben, noch ehe es richtig mit dem alten Gebäude verwachsen ist.
    Der Scheinwerfer, der sonst den rund gemauerten Schornstein der Kulturbrauerei anstrahlte, war ausgefallen. Anselm Jarczynski schaute in die Nacht hinaus und konnte kaum einen Lichtschimmer erkennen. Da throne ich auf einem Dach inmitten einer Metropole – na ja, einer Stadt, die sich anschickt, eine Metropole zu werden –, und trotzdem ist sie dunkel. Die Geräusche kommen aus dem Nichts. Von Besuchen in anderen Stadtteilen wusste er, dass im Westen mehr Kirchen angestrahlt wurden und rote Warnlämpchen für die Flugzeuge leuchteten.
    Am Balkontürrahmen lehnend versuchte er sich zu erinnern, wo in Berlin die Flughäfen liegen. Tegel irgendwo im Norden, bis um Mitternacht sah er jeden Abend die Perlenschnur der Scheinwerfer von den landenden Maschinen. Tempelhof im Süden. Der Prenzlauer Berg war eine Insel zwischen den Einflugschneisen, ohne rote Lämpchen und ohne repräsentativen Bau, den es anzustrahlen lohnte. Er wollte sich erinnern, wie die Aussicht tagsüber war: Gab es größere Kirchen bei ihm in der Nähe? Am Tage hatte er sich noch nicht die Zeit genommen. Und dafür lasse ich mir eine teure Dachgeschosswohnung einrichten!
    Er sah sich im Wohnzimmer um, begann herumzuschlendern wie in einer Galerie. Die Wände sind hoch, wie ich es liebe, dachte er. Sie haben die beleuchteten Nischen so in die Wände eingelassen, wie ich es gewünscht habe. Der Raum ist groß, der Parkettboden perfekt bis auf die Stelle am Kamin, das müssen sie ausbessern. Das Bett, fast in der Mitte des Raumes, hätte größer sein können. Es ist eine kleine Bühne. Ich bin gespannt auf die Inszenierungen.
    Er betrachtete die Möbel und den Lichteinfall und fand, dass alles gut war. Kann es für einen Mann eine bessere Situation geben, eine geeignetere Startposition? Er beschloss, dem Whisky in vollem Zuge zuzusprechen. Er würde in dem Sessel aus schwarzem Leder und Chromgestell genügend Halt finden, Glas für Glas. Am nächsten Tag hatte er Termine, allerdings erst ab zwölf Uhr. Niemand würde ihn stören, ihn wecken, etwas von ihm verlangen. Nicht einmal am Morgen mit ihm sprechen oder Toasts zubereiten oder die Zeitung holen oder lächeln. Er würde
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