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Blut & Barolo

Titel: Blut & Barolo
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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    Kapitel 1
     
     
    DER PALAZZO
     
     
    W ie ein ausgehungertes Tier senkte der Winter seine Krallen ins Piemont, entwurzelte mit Stürmen ganze Waldstriche, ließ Dächer unter der Last von Schneemassen einstürzen und Straßen im Weiß verschwinden. Doch der betagte Trüffelhund Giacomo bekam von alldem gerade überhaupt nichts mit, denn er wurde im Fond eines alten Fiat Ducato mächtig durchgerüttelt. In eine Decke eingehüllt versuchte er, das unablässige Schaukeln zu vergessen und stattdessen an köstlichen Lardo di Arnad zu denken, und an Mocetta-Schinken, natürlich von der Gämse. Seine Nase schnupperte, als wäre sie nur wenige Zentimeter von dem mit Bergkräutern aromatisierten Fleisch entfernt und von dessen köstlicher, nussiger Würze. Er erinnerte sich an warme Sommertage, an denen er vor Marcos kleiner Trattoria stand und den letzten Zipfel einer frisch aufgeschnittenen Wurst abbekam.
    Der Transporter hielt mit einem harschen Ruck, die Decke rutschte von Giacomos Körper, und Kälte nahm ihren Platz ein. Müde öffnete Giacomo die Augen. Das grelle Weiß des Schnees drang durch das verschmutzte Heckfenster herein. Dann öffneten sich die Türen, und zwei Hunde huschten an Giacomo vorbei, sprangen in den tiefen Schnee und schnappten nach den durch die Luft wirbelnden Flocken, welche die Größe von Parmesanhobeln hatten. Die überschwängliche Jugend, dachte Giacomo, biss sich einen Zipfel der Decke, zog sie wieder über den Rücken und schloss die Augen.
    »Raus mit dir, du verlauster Faulpelz«, rief Isabella und wuschelte ihm über den Kopf. »Ich hab ein wohlig warmes Plätzchen für dich, und zu essen findet sich bestimmt auch noch was.«
    Giacomo wäre sicher liegen geblieben, hätte sie nicht angefangen zu pfeifen. Er tat alles, um dieses schrille Geräusch zu vermeiden. Isabella beherrschte die Kunst des klangvollen Pfiffs nicht, bei ihr ähnelte es eher dem Geräusch eines quietschenden Schwerlasters.
    Die beiden anderen Vierbeiner liefen bereits weit voraus. Das Italienische Windspiel Niccolò trug einen warmen Hundepullover aus Teddybärenfell, die rothaarige Spanielhündin Canini war lange nicht getrimmt worden und hatte dergleichen nicht nötig. Sie waren schon fast bei diesem weißen mächtigen Ungetüm angelangt, das unbeirrt in der Kälte saß. Es sah aus wie ein Gebirge, dessen höchster Punkt, gekrönt von einem prachtvollen Hirsch, genau in der Mitte lag. Von dort nahm seine Größe harmonisch zu beiden Seiten hin ab. Die Schneemassen wirkten wie Zuckerguss auf diesem ungeheuren Menschenwerk. Etwas Vergleichbares hatte Giacomo niemals zuvor gesehen. Wieso erschufen Menschen solche Gebilde? Alles, was man zum Leben brauchte, passte doch in eine kleine Hütte – allerdings mit einem großen Kühlschrank.
    Niccolò hatte ihm auf der Hinfahrt erzählt, dass es zum Palazzina di Caccia di Stupinigi gehen würde, einem Schloss, in dem einst bedeutende Menschen gehaust hatten, wenn sie zur Jagd gingen.
    Giacomo sprang von der Ladekante in den Schnee. Sogleich spürte er den Temperaturunterschied an den Fußtatzen, doch sein gekräuseltes, leicht öliges Fell wärmte ihn wie stets. Der dürre Niccolò musste in dieser Jahreszeit ein Stück Stoff am Leib tragen, damit er nicht zu einem Eisblock erstarrte. Die Spanielhündin Canini hatte ganz andereProbleme. In ihren langen Ohren fing sich der Schnee und ließ sich nicht abschütteln.
    Giacomo sog die eisige Luft ein, suchte in ihr nach Aromen, die ihm etwas über das Land erzählten, über die Menschen, die Tiere, das Leben. Doch es fand sich nichts. Die Luft war wie klares Gebirgswasser. Er tapste einige Schritte weiter, zu einer Stelle, wo der Wind vom Wald her wehte. Aber wieder spürte Giacomo nur diese Kälte, die alles Leben erbarmungslos gefrieren ließ. Keine Duftspuren.
    Auch nicht die von Wölfen.
    »Kommt schon, ihr verrückten Hunde!«, rief Isabella, strich sich die Schneeflocken aus den kurzen blonden Haaren und schwang sich ihren geliebten Wollschal um den Hals, in den sie alle Farben des Regenbogens gestrickt hatte. Die junge Biologin der Turiner Universität ergriff zwei schwere Koffer und machte sich auf den Weg zum westlichen Schlosstrakt. Seit dem Telefonanruf, der sie hierherbestellt hatte, war sie unheimlich fröhlich. Geradezu überdreht. Während der ganzen Autofahrt hatte sie gesungen.
    Plötzlich schritt Niccolò neben Giacomo. »Sie hofft so sehr, dass es nicht ihr Wolfsrudel ist. Sie hat Angst, was dann
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