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Flammenopfer

Flammenopfer

Titel: Flammenopfer
Autoren: Joerg Liemann
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Sollten sich nicht deine Kollegen darum kümmern?«
    » Nein, auf der Ebene war das Gespräch nicht. Es war kein Hilferuf, ich meine: keine Bitte, zu ihr zu fahren.« Er deutete auf seine Kladde. » Ich schreibe mir den ersten Satz eines Telefonats auf. Darin steckt der Schlüssel. Am Anfang sagen sie, worum es ihnen geht, ohne es zu merken. Danach schweifen sie ab. Und die Frau sagte zu Beginn: Herr Wachtmeister, hier muss etwas gemeldet werden.«
    » Eben.« Monika war aufgestanden und schloss das Fenster. Sternenberg hatte nicht das Gefühl, dass es kälter geworden war.
    » Wenn sie wirklich etwas bei der Polizei hätte melden wollen, hätte sie die Polizei angerufen. Sie wählt den Begriff › Wachtmeister‹, der nicht in die reale Welt gehört. Sie hat nicht die Absicht, etwas zu melden. Der Satz ist eine Entlastung, er gehört zu einem Rollenspiel.«
    » Vielleicht brauchte sie trotzdem die Hilfe der Polizei.«
    Sternenberg nahm die Pfeife und kratzte die Asche heraus. Ein Stich ging durch seinen Magen. Zu viel Kaffee, ich sollte keinen mehr trinken. » Nehmen wir mal an, sie wollte über den Umweg der Telefonseelsorge an die Polizei herankommen«, sagte er. » Was wäre passiert, wenn wir die Polizei alarmiert hätten – vorausgesetzt, die Frau hätte mir ihre Adresse genannt?«
    » Die Polizei wäre hingefahren und hätte nachgesehen.«
    » Und? Hätte nichts gefunden außer einer verwirrten, leicht verwahrlosten Frau.«
    » Kann sein. Aber dann wären wir sicher.«
    » Hier wirst du keine Sicherheit haben. Du weißt zu keiner Zeit, ob es stimmt, was die Leute dir am Hörer sagen. Vielleicht dankt dir einer freundlich für das Gespräch und das Verständnis, legt auf – und erschießt sich. Um Sicherheit geht es nicht bei der Telefonseelsorge.«
    » Meinst du.«
    » Die Polizisten würden ihr keine zwei Minuten zuhören. Die Polizei ist das Letzte, was sie will. Sie hat einen psychotischen Schub. Oder ein Delir oder sonst was. Sie hat von Tabletten gesprochen, wahrscheinlich hat sie ihre Psychopharmaka nicht genommen.«
    » Paranoid schizophren.«
    » Weiß ich nicht«, sagte Sternenberg.
    » Paranoid schizophren.«
    » Kann ich nicht beurteilen. Ich bin Telefonseelsorger, kein Psychologe.«
    » Ich aber.«
    Sternenberg sah sie an. Ihre ernsten Falten. Psychologinnenfalten also. Er drehte an der Thermoskanne und goss sich den letzten Schluck ein. » Ich versuche, die Anrufer zu hören und sie nicht gleichzeitig zu analysieren. Analyse hat nur Sinn, wenn man jemanden anschließend therapieren kann. Die meisten rufen aber nie wieder an.«
    Die Falten seines Gegenübers blieben.
    Weshalb glaubt sie zuerst an einen echten Hilferuf und behauptet dann, es sei paranoide Schizophrenie? Ohne mit der Frau gesprochen zu haben.
    » Ohne Analyse kann man nicht richtig zuhören«, sagte sie mit Blick auf die Bücherregale. » Ich muss wissen, was den Anrufern fehlt. Sonst kann ich nicht auf sie eingehen.«
    » Es genügt doch, wenn sie bei dir ein Gefühl verursachen, einen Eindruck. Damit kannst du arbeiten.«
    » Na ja, das sehe ich anders«, sagte sie in Richtung der Bücher.
    Das Telefon klingelte.
    » Soll ich übernehmen?«, fragte die Psychologin mit dem Pagenkopf.
    Sternenberg war es mehr als recht, dass sie in ihr Zimmer ging und sich um den nächsten Anrufer kümmerte.
    Kai Sternenberg ging über den Flur ins Sitzungszimmer und setzte sich ins Dunkel. Bald würde die Sonne aufgehen, er hörte Vogelgesang. Im Raum gab es nichts außer einem Kreis von Stühlen und zwei Palmen.
    Hier hatte Sternenberg in den Gruppensitzungen seine besten und schlimmsten Gespräche geführt, Gespräche über sich selbst, über sein Innenleben, seine Konflikte und seine Pläne. Die Wände hätten viel zu erzählen.
    In diesem Raum gab es keine Bilder, keine Kaffeemaschine und keine Bücher. Vor allem kein Telefon. Deshalb liebte er es, in den ruhigen Phasen der Nachtdienste hier zu sitzen. Nichts lenkte ab. Wie in einer Mönchszelle.
    Er saß im Dämmerlicht und sah die Stühle und die Palmen und die beiden Fensterkreuze des Altbaus.
    Sie ist eine kleine Frau, dachte er. Er fühlte, dass er schmunzelte. Im Dunkeln, für niemanden. Er schmunzelte, weil sein Schwarz-Weiß-Schema funktionierte. Nach ihm teilte er Frauen bei der Telefonseelsorge, auf die er zum ersten Mal traf, in große und kleine Frauen ein. Ein pubertärer Scherz. Was würden sie wohl dazu sagen, wenn ich das in einer Gruppe mitteilen würde.
    Mit einer großen
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