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Flammenopfer

Flammenopfer

Titel: Flammenopfer
Autoren: Joerg Liemann
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Kai Sternenberg saß zurückgelehnt im Schreibtischsessel. Die Pfeife hielt er so ruhig wie möglich. Sein Blick suchte die Stelle, an der der Faden schwach wurde, zerfaserte und sich in hundert Schlängeln ausbreitete und auflöste.
    Der Pfeifenkopf war heißgeraucht. Sternenberg zog mit der Linken einen Aschenbecher von der Tischplatte und stellte ihn sich in den Schoß. Zu den angesengten Tabakskrümeln und einem Kohlefilter kippte er die lose in der Pfeife liegende Asche. Den Aschenbecher stellte er zurück auf sein Notizbuch. Er sog am Mundstück. Im Pfeifenkopf glimmte der Tabak. Ein neuer, frischer Rauch entwich wie schlangenbeschwört in die Tischlampennacht.
    Gegen das Licht besehen begannen die Rauchfiguren ihr kurzes Leben. Sternenberg hauchte ihnen entgegen.
    Das Fenster stand offen. Zwischen drei Uhr und vier Uhr nachts bewegte sich kein Uhrenzeiger. Die Nacht war heiß, sie war trocken, und Rauch war das einzig Konkrete. Obwohl die Fensterflügel offen standen, konnte Kai Sternenberg von seinem Platz aus den Himmel nicht sehen. Er fühlte und sah den Pfeifenkopf. Zu warm für eine Sommernacht, zu süßlich auf der Zunge und in der Nase für die Jahreszeit. Worum es mir nur geht, dachte er und rieb sich den Rücken am Leder des Sessels, ist der Anblick des Rauches im Licht. Wenn ich das Licht ausschalten würde, hätte ich keinen Grund zu rauchen. Du willst nur sehen, wie es sich bewegt, wie dieses Gewölk sich plan- und strukturlos in der Luft zertanzt. Du bist ein Voyeur. Ein Voyeur des Rauchs.
    In diesem Moment zischte der frische Tabak am Boden des Pfeifenkopfes. Vom Bahnhof drüben kam eine Lautsprecherdurchsage. Irgendwohin. Nur die Melodie der Stimme war zu hören, kein einziges Wort zu verstehen.
    Sternenberg richtete sich im Drehstuhl auf und zog den Hefter mit den Statistiktabellen heran. Einiges hatte er schon eingetragen oder angekreuzt: W für weiblich. Unbekannt. 60-70 Jahre. Gesprächsbeginn 3.10 Uhr. Motiv? Kai Sternenberg sah sich die Notizen in seiner Kladde an. Das erste Wort war Wachtmeister, mehrfach eingekreist. Dahinter stand, kaum lesbar: Hier muss etwas gemeldet werden. Unterhalb dieses Satzes hatte er einzelne Worte abgesetzt: Herr Doktor. Fleisch. räudig. Mann – Offizier – Beine – Identität? Dann folgten Kringel und ausgemalte Kreise. Als Letztes war da ein Pfeil mit zwei Eintragungen: Medikamente und assoziatives Sprechdenken. Ende 3.35 Uhr. 20 min.
    Langsam wurde die Tür geöffnet. Eine Frau mit Pagenfrisur schaute herein. » Hast du gerade ein Gespräch?«
    Kai Sternenberg verneinte und winkte sie herein. » Ich sitze an der Statistik.«
    Die Frau mochte um die vierzig sein. Aber er verschätzte sich meist beim Alter. Die Pagenfrisur sollte sie jünger machen. So kurz geschnitten wirkte es eher lächerlich. Knapp älter als ich, dachte er, 45.
    » Ich bin Kai. Wir kennen uns noch nicht, oder?«
    Sie setzte sich auf die Liege und schob die Hände gegenseitig in die Pulloverärmel. » Nein. Monika. Ich bin erst seit dem Frühjahr dabei.«
    » Möchtest du Kaffee?«
    » Nur wenn du Milch hast.«
    » Tut mir leid.«
    » Dann nicht. Arbeitest du schon lange hier?«
    Sternenberg mochte solche Konversation nicht. Seit siebzehn Jahren führte er sie mit den Neuen. Damals hatte er als ehrenamtlicher Mitarbeiter der Telefonseelsorge begonnen. Nach fünf Jahren war ihm der Nachtdienst alle zwei Wochen zu viel geworden. Dazu die ständigen Kurse und Nachbesprechungen. Man bot ihm an, auf Honorarbasis mitzuarbeiten. Zwar hatte der Verein mit über zweihundert ehrenamtlichen Helfern genügend kostenlose Kräfte, doch an den Feiertagen und in den Ferien ergaben sich Engpässe. Das Thema Geld beunruhigte manche der Kolleginnen und Kollegen, die nichts für ihre Dienste bekamen.
    » Ja«, sagte er, » ich bin ein paar Jahre dabei. Du bist heute um Mitternacht eingerückt und hast Pit abgelöst?«
    » Hm.«
    » Und wie waren die Gespräche?«
    » Einfach.«
    » Gut«, sagte er und dachte, dass die Neuen die ersten Gespräche oft einfach finden.
    Sie schob ihre Ärmel hoch. » Und du quälst dich mit der Statistik?«
    » Es ist Krampf. Ständig ändern sie die Kennzahlen.« Er warf den Kugelschreiber auf den Hefter und lehnte sich mit einem Ruck zurück, der Stuhl quietschte. » Ich hatte eben eine alte Frau, die mich als Herr Wachtmeister angesprochen hat.«
    » Wachtmeister?« Sie zog die Stirn in Falten.
    » Ja. Das Witzige ist …«
    » Moment. Wieso nennt sie dich denn so? Hatte
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