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Der Feigling

Der Feigling

Titel: Der Feigling
Autoren: Hans Gruhl
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I
     
    Barbara lernte den Feigling kennen am
2. Mai, einem Dienstag. An diesem Tag ahnte sie nicht, was für ein Feigling er
war.
    Es geschah im Mitteltrakt des
Universitätsgebäudes, auf dem linken Flur des Erdgeschosses. Barbara stand vor
den Tafeln, auf denen die Vorlesungen des Semesters angekündigt waren, inmitten
eines schiebenden und drängenden Haufens von Studenten. Es war voll von
Schultern, Vorlesungsverzeichnissen, gezückten Bleistiften, Aktenmappen und
gefurchten Stirnen. Es gab nichts Wichtigeres als die Vorlesungen, die man an
diesem Semester belegen wollte.
    Dennoch hatte Barbara plötzlich eine
Witterung. Irgend jemand schielte bei aller Wißbegierde nach ihren Beinen. Er
war in ihrer Nähe, ebenso eingekeilt und festgenagelt. Mit einem Blick aus den
Augenwinkeln erfaßte sie einen runden Schädel, leicht wässerige Augen und
dünnes Haar von äußerst nichtssagender Farbe. Für einen Studenten zu alt und
für einen Professor zu jung. Sie wandte den Kopf wieder zur Tafel. Niemand
würde ihr jemals gleichgültiger sein als dieser Mann.
    Beharrlich drängte sie weiter nach
vorn. Als sie nahe genug war, um die Schrift auf dem Zettel entziffern zu
können, stellte sie fest, daß sie am falschen Buchstaben gelandet war.
    Sie schnaubte leicht durch die Nase und
drängelte zurück. Ihr Temperament half ihr dabei. Sie erreichte den hinteren
Rand der akademischen Menschenmauer. Dann verlor sie ihr Vorlesungsverzeichnis.
    Niemand hob es auf. Natürlich. Sie kam
aus der Kniebeuge hoch und sah direkt in ein fröhliches Lächeln aus zwei
feuchten Augen. Hochmut und Entschlossenheit der Vorfahren ballten sich in ihr
zusammen. Sie riß ihre Tasche auf und wollte das Verzeichnis hineinfeuern. Es
fiel zum zweitenmal hinunter.
    »Newton«, sagte der Mann.
»Gravitationsgesetz.«
    Er bückte sich gleichzeitig mit ihr.
Barbara stieß mit der Nase an seine Halbglatze wie in einem Film von Dick und
Doof. Es roch nach Haarwasser.
    Barbara stand schon, als er sich
aufrichtete. Es schien ihm Mühe zu machen.
    »Vielen Dank«, stieß sie heraus. »Hat’s
weh getan?«
    Der Feigling blieb stehen, mit
bekümmertem Gesicht, die linke Hand auf dem Kopf. »Mädchen mit solchen Nasen
sollten nicht zum Studium zugelassen werden«, murmelte er. Er hatte die Stimme
eines geschlagenen Boxers. »Bei dem Platzmangel.«
    Barbara hatte sich abwenden wollen, auf
ewig. Jetzt war sie gezwungen, ihn zu vernichten. Ihre Nase! »Leute in ihrem
Alter sollte man nicht zulassen! Bei dem Platzmangel!«
    »Ich bin nicht zugelassen«, sagte der
Mann. »Ich bin Schwarzhörer. Ich bilde mich im Finstern.«
    »Bißchen spät.« Barbara nahm allen Hohn
in ihrer Stimme zusammen. »Außerdem ist es eine Schande!«
    »Es ist gerecht. Elf Semester habe ich
bezahlt. Andere Leute haben schwarzgehört für mein Geld. Ich räche mich an
ihren Nachfolgern.«
    »An mir also. Lastenausgleich, wie?«
    »Ich möchte es eher als eine
abgewandelte Art von Honnefer Modell bezeichnen«, sagte der Feigling höflich.
»Darf ich fragen, was Sie studieren?«
    »Zeitung.«
    »Aha. Die Wissenschaft vom Schwindel.«
    Barbara konnte nicht antworten. Ein
Schwarm von Neuangekommenen stürzte durch den Flur. Sie wurden weggedrängt zur
gegenüberliegenden Wand. Viele Füße traten auf den ihren herum.
    Der Feigling ächzte. »Au! Niemals
kommen Sie mehr bis zu den Tafeln! Nicht heute und nicht bis zu Pfingsten!« Er
klappte sein Verzeichnis auf. »Hier — alles schon notiert. Die ganze
Zeitungswissenschaft mit allen Randgebieten und Vorlesungsbeginn und Hörsaal.
Wollen Sie’s abschreiben?«
    Barbara blickte in das Gewühl. Der Mut
verließ sie. Sie nickte.
    »Kommen Sie. Ich decke Sie mit meinem
Körper!«
    »Greis!« murmelte Barbara wütend.
Lächerlicher Kerl, dieser Heini. Alt und ohne Einfälle. Man hätte Besseres
erwarten können, wenn man schon hier herumstand und breitgequetscht wurde. Sie
erreichten eine entfernte Fensternische.
    Der Feigling blies die Luft hörbar von
sich. »Grauenhaft. Wo man hintritt Studenten. Bald wird es Lokusfrauen mit
Hochschulbildung geben.«
    Er achtete nicht auf ihre Empörung und
legte das Verzeichnis aufs Fensterbrett. »Hier — abschreiben müssen Sie doch
noch können — von der Schule her.«
    Sie warf ihm einen Lanzenstoß von Blick
zu und schrieb ab. Der Feigling betrachtete sie von der Seite.
    »Starren Sie mich nicht an!« sagte
Barbara.
    Er konnte sich nicht von ihrem Gesicht
losreißen. Es war ein liebes Gesicht. Arroganz,
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