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Flammenopfer

Flammenopfer

Titel: Flammenopfer
Autoren: Joerg Liemann
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das nicht realisiert! Er sagt, er müsse sofort die Nummer vom Arbeitsamt haben. Da war keine Möglichkeit für ein Gespräch.«
    » Aha.«
    » Ja. Nichts mit – sprechen.«
    » Und weshalb ruft er die Telefonseelsorge an, die dafür bekannt ist, dass man da mit jemandem sprechen kann? Was tut jemand, der fest entschlossen ist, sich umzubringen?«
    » Du sagst es mir gewiss.«
    » Ja. Er bringt sich um.«
    » Und was sagt mir das, Herr Wachtmeister?«
    » Wer hier anruft, obwohl er lebensmüde ist, der hat selbst noch Hoffnung, Frau Psychologin! Vielleicht ist es nur eine depressive Phase, und das Gespräch bringt ihn wieder aufs Gleis. Vielleicht ist es die allerletzte Chance, und die Hoffnung ist ein winziges, verglühendes Flämmchen. Das wissen wir leider nicht. Aber solange einer hier nachfragt oder droht oder heult oder rumdiskutiert, gibt es doch einen Ansatz. Und dem dürfen wir uns nicht entziehen, indem wir für ihn im Telefonbuch blättern.«
    » Er wollte von mir die Telefonnummer.«
    Sternenberg verzichtete darauf, sich bei seiner Nachtkollegin zu verabschieden. Sie telefonierte.
    Er nahm den Wagen und fuhr quer durch Berlin zum Plötzensee. Die Stadt war hell und leer, und das Strandbad hatte noch nicht geöffnet.
    Er ging zur Schmalseite des Sees, zu einer Baumgruppe, zog sich aus, schob seine Tasche ins Gebüsch und stieg neben dem Schilf ins Wasser. Die Oberfläche war noch glatt und unberührt. Im Sommer, wenn die Bäume rings herum dicht bewachsen waren, war die Stadt wie ausgeblendet. Es war eine Oase, die er liebte, seit er in jungen Jahren am Westhafen ganz in der Nähe gewohnt hatte.
    Kai Sternenberg griff mit den Armen weit aus und ließ sie abwechselnd an seinem Körper vorbeiziehen. Nach einigen Schlägen hatte er sein Tempo.
    In der Mitte des Sees schien es weder Wasser noch seinen Körper zu geben. Nur die Bewegung.
    Als das Ufer der anderen Seite näher kam, hatte er die Müdigkeit des Sitzens und Rauchens und Meditierens hinter sich gelassen und freute sich auf die körperliche Erschöpfung.
    Er allein durchschnitt den See. Eine Entenfamilie hielt sich unter einer Trauerweide.
    Nach der zweiten Kehre zog Sternenberg das Tempo an. Der Atem war im Takt, er pustete Luft und Wasser von sich und stieß sich durch die kühle Natur. Für einen Moment ließ er sich gleiten, dann ging er zum Delfinschlag über. Fortwährend streifte das Wasser vom Kopf an seinem Körper entlang.
    Keine Gedanken, dachte er.
    Der Rumpf des ersten Flugzeuges stand steil im Himmel, die Düsen donnerten auf den See ein. Sternenberg hatte seine Kilometer absolviert und ließ sich mit einem letzten Schlag unter Wasser treiben. Bis er Schilf zwischen den Fingern spürte.
    Die Muskeln fühlten sich warm und geschmeidig an, er war erschöpft vor Glück und hätte Lust gehabt, nackt nach Hause zu laufen – die Spinnerei des Sportlers. Mit den Händen fuhr er sich durch die Haare und zog das T-Shirt über den nassen Oberkörper. Bei der Hose war er einsichtig und nahm ein Handtuch aus der Tasche.
    Als er sich im Auto anschnallte, schloss er für einen Moment die Augen. Du warst schon mal erfrischter danach, dachte er. Und jünger. Er startete schnell und grimassierte mit den Augen, damit sie wach blieben, bis er zu Hause war, in seiner Dachwohnung am Prenzlauer Berg.

4
    Zu Hause öffnete Sternenberg alle Fenster und hängte das Handtuch zum Trocknen auf.
    Er sah über die Dächer. Irgendetwas stimmte nicht. Es musste eine Veränderung in der Nacht gegeben haben, er sah sie nur noch nicht.
    In der Ferne war alles wie immer: Gethsemanekirche, Wasserturm, der Schlot der Kulturbrauerei, der Fernsehturm … Die Baukräne in Pankow standen in gleicher Windrichtung wie am Abend zuvor. Die Baumkronen zwischen den Dächern zeigten noch keine Anzeichen des Herbstes. Blitzableiter, Satellitenschüsseln und Antennen waren unverändert. Keine der Leitern, die an den Schornsteinen lehnten, war umgestellt.
    Und doch gab es etwas, was ihn beunruhigte.
    Eine Elster trank Wasser aus einer Schale, die jemand auf eine Balkonbrüstung gestellt hatte. Der Vogel reckte den Hals, schaute sich um, machte eine kurze Bewegung mit dem Kopf, die wie eine Verbeugung aussah und flog zur Kastanie hinüber, in der Sternenberg ihr Nest vermutete. Doch kurz vor der Baumkrone drehte die Elster bei und tauchte in einen der Hinterhöfe ein.
    Jetzt sah er es. Neben einem der Schornsteine stand ein Weinglas.
    Er ging in die Küche, weil er vom dortigen Fenster
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