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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah
Autoren: Jonathan Safran Foer
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das Gefühl, dass es nicht egal war?
    Außerdem war ich überrascht, dass der Sarg weder ver schlossen noch zugenagelt war. Der Deckel lag einfach lose oben drauf, und jeder, der Lust hatte, konnte ihn öffnen. Das kam mir irgendwie falsch vor. Andererseits: Wer will schon ei nen Sarg öffnen?
    Ich öffnete den Sarg.
    Wieder war ich überrascht, obwohl das eigentlich völlig überflüssig war. Ich war überrascht, dass Dad nicht darin lag. Vom Kopf her wusste ich, dass es nicht sein konnte, versteht sich von selbst, aber insgeheim hatte ich mir offenbar etwas anderes erhofft. Oder vielleicht war ich auch nur überrascht, wie unglaublich leer der Sarg war. Ich hatte das Gefühl, als blickte ich auf die Wörterbuchdefinition von »Leere«.
    Auf die Idee, Dads Sarg auszugraben, war ich am Abend nach meiner ersten Begegnung mit dem Mieter gekommen. Ich lag im Bett und hatte diese Erleuchtung, sie kam mir vor wie die einfache Lösung eines unlösbaren Problems. Am nächsten Vormittag wollte ich Steinchen an das Fenster des Gästezimmers werfen, wie mir der Mieter geschrieben hatte, aber da ich nicht besonders gut werfen kann, bat ich Stan dar um. Als mich der Mieter an der Ecke traf, erzählte ich ihm von meiner Idee.
    Er schrieb: »Und wozu soll das gut sein?« Ich erwiderte: »Es ist die Wahrheit, und Dad hat die Wahrheit geliebt.« »Welche Wahrheit?« »Dass er tot ist.«
    Danach trafen wir uns jeden Nachmittag und sprachen über die Einzelheiten, als planten wir einen Feldzug. Wir sprachen darüber, wie wir zum Friedhof kommen würden, wir disku tierten, wie man über Zäune klettern konnte und wo wir eine Schaufel und alle anderen Sachen herbekämen, die wir brauch ten, zum Beispiel eine Lampe und Drahtscheren und Saft-tüten. Wir schmiedeten die ganze Zeit Pläne, aber aus irgend einem Grund hatten wir nie besprochen, was wir tun würden, wenn wir den Sarg geöffnet hatten.
    Diese nahe liegende Frage stellte der Mieter erst an dem Tag, bevor wir wirklich loslegten.
    Ich erwiderte: »Wir füllen ihn, versteht sich von selbst.«
    Er stellte noch eine nahe liegende Frage.
    Zuerst schlug ich vor, den Sarg mit Dingen aus Dads Leben zu füllen, mit seinen Rotstiften zum Beispiel oder mit dem Vergrößerungsglas, das er immer im Juwelierladen benutzt hatte und das man Lupe nennt, oder vielleicht sogar mit seinem Smoking. Vermutlich hatte ich diese Idee von den Blacks, die sich gegenseitig ein Museum eingerichtet hatten. Aber je mehr wir darüber sprachen, desto sinnloser kam es uns vor, denn welchen Nutzen sollten die Sachen haben? Dad konnte sie nicht mehr benutzen, denn er war ja tot, und außerdem wies der Mieter darauf hin, dass es schön wäre, wenn ich auch noch ein paar Sachen von Dad hätte.
    »Ich könnte den Sarg mit Schmuck füllen, wie man das frü her bei den berühmten Ägyptern gemacht hat, darüber weiß ich Bescheid.« »Aber er war doch kein Ägypter.« »Und außer dem hat er Schmuck nicht gemocht.« »Er hat Schmuck nicht gemocht?«
    »Vielleicht könnte ich Sachen begraben, für die ich mich schäme«, schlug ich vor und dachte dabei an das alte Telefon und den Briefmarkenbogen mit den berühmten amerikani schen Erfindern, wegen dem ich wütend auf Oma geworden war, und den Text von Hamlet und die Briefe, die ich von Fremden bekommen hatte, und die affige Visitenkarte, die ich mir gemacht hatte, und das Tamburin und den unfertigen Schal. Aber das war ebenfalls sinnlos, denn wie mir der Mieter klar machte, hat man nichts wirklich begraben, nur weil man es begraben hat. »Aber was dann?«, fragte ich.
    »Ich habe eine Idee«, schrieb er. »Du siehst es morgen.«
    Warum hatte ich so großes Vertrauen zu ihm?
    Als wir uns am nächsten Abend um 23:50 Uhr an der Ecke trafen, hatte er zwei Koffer dabei. Ich fragte ihn nicht, was dar in war, weil ich aus irgendeinem Grund lieber warten wollte, bis er es mir erzählte, obwohl es natürlich mein Dad und der Sarg deshalb auch meiner war.
    Als ich drei Stunden später in das Loch stieg, die Erde wegfegte und den Deckel hob, öffnete der Mieter seine Koffer. Sie waren voller Papier. Ich fragte ihn, was es sei. Er schrieb: »Ich habe einen Sohn verloren.« »Echt?« »Ich habe ihn schon verloren, bevor er gestorben ist.« »Wie?« »Ich bin fortgegangen.« »Warum?« Er schrieb: »Ich hatte Angst.«»Angst wovor?«»Angst davor, ihn zu verlieren.« »Hatten Sie Angst, er könnte sterben?« »Ich hatte Angst, er könnte leben.« »Warum?« Er schrieb: »Das Leben
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