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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah
Autoren: Jonathan Safran Foer
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lag ich im Bett. Sie beschützte mich. Ich glaube nicht an Gott, aber ich glaube, dass alles unglaublich kompliziert ist, und dass sie mich beschützte, war viel komplizierter als alles ande re. Aber zugleich war es auch unglaublich einfach. Im einzigen Leben, das ich hatte, war sie meine Mom, und ich war ihr Sohn.
    Ich sagte zu ihr: »Du darfst dich ruhig wieder verlieben.«
    Sie sagte: »Ich werde mich nicht mehr verlieben.«
    Ich erwiderte: »Ich möchte es aber.«
    Sie gab mir einen Kuss und sagte: »Ich werde mich nie mehr verlieben.«
    Ich erwiderte: »Das musst du jetzt nicht sagen, nur damit ich beruhigt bin.«
    Sie sagte: »Ich liebe dich.«
    Ich drehte mich auf die Seite und hörte, wie sie zum Sofa zurückging. Ich hörte sie weinen. Ich stellte mir ihre nassen Ärmel vor. Ihre müden Augen.
    Eine Minute und einundfünfzig Sekunden …
    Vier Minuten und achtunddreißig Sekunden …
    Sieben Minuten …
    Ich griff in den Spalt zwischen Bett und Wand und zog mein Was-ich-erlebt-habe – Album hervor. Es war knallvoll. Ich musste bald einen neuen Band beginnen. Ich las, dass das Feu er in den Türmen vom Papier geschürt worden war. All die Notizbücher und Kopien und ausgedruckten E-Mails und Fotos von Kindern und Bücher und die Dollarscheine in all den Brieftaschen und die Akten in den Ordnern … alles war Brennstoff gewesen. Vielleicht wäre Dad noch am Leben, wenn wir in einer papierlosen Gesellschaft lebten, wie sie viele Wissenschaftler für die nahe Zukunft vorhersagen. Vielleicht sollte ich besser keinen neuen Band beginnen.
    Ich holte meine Taschenlampe aus dem Rucksack und rich tete ihren Strahl auf das Buch. Ich sah Karten und Zeich nungen, Bilder aus Zeitschriften und Zeitungen und dem In ternet, Fotos, die ich mit Opas Kamera gemacht hatte. Das Album enthielt die ganze Welt. Schließlich fand ich die Bilder vom stürzenden Körper.
    Ob es Dad war?
    Vielleicht.
    Wer immer es sein mochte, es war irgendjemand.
    Ich riss die Seiten aus dem Album.
    Ich ordnete sie in umgekehrter Reihenfolge, sodass das ers te Bild das letzte und das letzte das erste war.
    Als ich sie durchblätterte, sah es so aus, als würde der Mann nach oben in den Himmel fliegen.
    Und wenn ich noch mehr Bilder gehabt hätte, wäre er durch ein Fenster ins Gebäude geflogen, und der Rauch wäre zurück ins Loch gequollen, aus dem im nächsten Moment das Flug zeug gekommen wäre.
    Dad hätte seine Nachrichten auf dem Anrufbeantworter zurückgesprochen, bis das Band leer gewesen wäre, und das Flugzeug wäre rückwärts von ihm fortgeflogen, den ganzen Weg bis nach Boston.
    Er hätte den Fahrstuhl nach unten genommen und auf den Knopf für das oberste Stockwerk gedrückt.
    Er wäre rückwärts zur U-Bahn-Station gegangen, und die U-Bahn wäre rückwärts durch den Tunnel bis zu unserer Station gefahren.
    Dad wäre rückwärts durch das Drehkreuz gegangen, hätte seine Fahrkarte wieder herausgezogen, wäre dann rückwärts nach Hause gegangen und hätte dabei die New York Times von rechts nach links gelesen.
    Er hätte den Kaffee zurück in die Tasse gespuckt, seine Zäh ne ungeputzt und sich Haare ins Gesicht rasiert.
    Er wäre wieder ins Bett gegangen, der Wecker hätte ihn in den Schlaf geklingelt, und er hätte sich zurückgeträumt.
    Und am Ende des Abends vor dem allerschlimmsten Tag wäre er wieder aufgestanden.
    Er wäre rückwärts in mein Zimmer gekommen und hätte dabei »I Am the Walrus« von hinten nach vorn gepfiffen.
    Er hätte sich zu mir ins Bett gelegt.
    Wir hätten die Sterne unter meiner Zimmerdecke betrachtet, und die Sterne hätten sich ihr Licht aus unseren Augen zu rückgeholt.
    Ich hätte »Nichts« rückwärts gesagt.
    Er hätte »Ja, Kumpel?« rückwärts gesagt.
    Ich hätte »Dad?« rückwärts gesagt, und es hätte genauso ge klungen wie »Dad« vorwärts.
    Er hätte mir die Geschichte vom Sechsten Bezirk erzählt, angefangen beim Ende mit der Stimme in der Dose bis zum Anfang, von »Ich liebe dich« bis »Es war einmal eine Zeit …«
    Und alles wäre gut gewesen.



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Das Buch
    Extrem gut und unglaublich gelungen – der neue Roman von Jonathan Safran Foer
     
    Wie wunderbar er erzählen kann, hat Jonathan Safran Foer schon in seinem ersten Roman Alles ist erleuchtet bewiesen. Mit der unvergesslichen Geschichte des kleinen Oskar Schell, der am 11. September den Vater verloren hat, zeigt Foer erneut sein literarisches Können. Ein mutiges Buch, gefühlsstark, traurig und komisch zugleich.
    Oskar
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