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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah
Autoren: Jonathan Safran Foer
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allem immer noch Bleifüße habe, und manchmal hilft mir das beim Spielen. Das schwierigste Stück, das ich auf meinem Tamburin spielen kann, ist »Der Hummelflug« von Nikolai Rimski-Korsakow, und das ist auch der Klingelton, den ich mir aufs Handy heruntergeladen habe, das ich nach Dads Tod bekam. Dass ich den »Hummelflug« kann, ist eigentlich ein Wunder, denn streckenweise muss man sehr schnell spielen, und das fällt mir ziemlich schwer, weil meine Handgelenke noch nicht kräftig genug sind. Ron wollte mir ein fünfteiliges Drum-Set kaufen. Money can’t buy me love , versteht sich von selbst, aber ich habe ihn doch gefragt, ob auch ein Becken-Set von Zildjian dabei wäre. Er sagte: »Was immer du willst«, und dann nahm er sich mein Jo-Jo vom Schreibtisch und tat so, als führte er einen Hund aus. Er meinte es einfach nur nett, aber ich war unglaublich genervt. »Jo-Jo moi !«, habe ich gesagt und riss ihm das Ding aus der Hand. In Wahrheit wollte ich sagen: »Du bist nicht mein Dad, und du wirst es nie sein.«
    Ist doch krass, dass die Toten immer mehr werden, obwohl die Erde gleich groß bleibt und es irgendwann keinen Platz mehr gibt, um die Toten zu begraben, oder? Letztes Jahr hat mir Oma zu meinem neunten Geburtstag ein Abo für Natio nal Geographic geschenkt. Sie nennt die Zeitschrift immer »die National Geographic «. Und weil ich nur Weiß trage, hat sie mir außerdem einen weißen Blazer geschenkt, der mir viel zu groß ist, er bleibt mir also noch lange erhalten. Sie hat mir auch Großvaters Kamera geschenkt, die ich aus zwei Gründen besonders gern mochte. Ich fragte sie, warum Großvater die Kamera nicht mitgenommen habe, als er sie verlassen hat. Sie sagte: »Vielleicht wollte er, dass du sie bekommst.« Ich sagte: »Aber da war ich doch minus dreißig Jahre alt.« Sie sagte: »Trotzdem.« Wie auch immer – faszinierend fand ich, dass laut National Geographic die Zahl der heute lebenden Menschen die Zahl all derer übertrifft, die im Laufe der Menschheitsge schichte gestorben sind. Anders gesagt: Wenn alle Menschen zur selben Zeit Hamlet spielen wollten, ginge das nicht, weil es nicht genug Schädel gibt!
    Wie wäre es mit unterirdischen Wolkenkratzern für die Toten? Sie befänden sich unter den Wolkenkratzern der Lebenden, die auf der Oberfläche stehen. Man könnte die Menschen hundert Stockwerke tief in der Erde begraben, und unter der Welt der Lebenden gäbe es eine Welt der Toten. Ich fände es auch krass, wenn der Fahrstuhl am Platz bleiben und stattdessen der Wolkenkratzer auf und ab fahren würde. Um ins 95. Stockwerk zu gelangen, müsste man einfach die Taste mit der Fünfundneunzig drücken, und dann würde das Stock werk zu einem kommen. Das könnte unter Umständen ziemlich hilfreich sein, denn wenn man sich im fünfundneunzigsten Stockwerk befindet und unter einem ein Flugzeug einschlägt, könnte einen das Gebäude ins Erdgeschoss fahren, und dann wären alle in Sicherheit, selbst wenn man ausgerechnet an dem Tag sein Vogelfutter-Hemd zu Hause gelassen hätte.
    Bisher bin ich nur zwei Mal mit einer Limousine gefahren. Beim ersten Mal war es schrecklich, obwohl die Limousine große Klasse war. Ich darf weder zu Hause noch in einer Li mousine Fernsehen gucken, aber ich fand es trotzdem super, dass ein Fernseher im Auto war. Ich wäre total gern an der Schule vorbeigefahren, damit mich Toothpaste und The Minch in einer Limousine gesehen hätten, aber Mom meinte, die Schule läge nicht auf dem Weg, und wir dürften nicht zu spät zum Friedhof kommen. »Warum nicht?«, fragte ich, und das hielt ich für eine klasse Frage, denn wenn man genauer dar über nachdenkt, warum nicht? Inzwischen ist es anders, aber früher war ich Atheist, und das bedeutet, dass ich nur an Din ge geglaubt habe, die ich auch sehen konnte. Ich habe ge glaubt, wenn man tot ist, ist man tot und fühlt nichts mehr und träumt auch nichts mehr. Es ist auch nicht so, dass ich jetzt an etwas glauben würde, das ich nicht sehen kann, bestimmt nicht. Inzwischen glaube ich eher, dass alles unglaublich kom pliziert ist. Und im Übrigen haben wir Dad auch gar nicht wirklich beerdigt.
    Obwohl ich mich ziemlich zusammenriss, fand ich es nervig, dass Oma mich immer wieder betatschte, und deshalb kletterte ich auf den Beifahrersitz und tippte dem Fahrer auf die Schul ter, bis er endlich auf mich aufmerksam wurde. »Wie. Lautet. Ihre. Benennung«, fragte ich mit meiner Stephen-Hawking-Stimme. »Wie bitte?« »Er möchte
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