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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah
Autoren: Jonathan Safran Foer
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uns die Sachen in den Flur stellen.« »Aber du kannst doch einer Fremden nicht unseren Schlüssel geben.« »Glücklicherweise ist Alicia keine Fremde.« »Wir haben viele Wertgegenstände in unserer Wohnung.« »Ich weiß. Wir haben echt tolle Sachen.« »Manchmal sind Leute, denen man vertraut, nicht so vertrauenswürdig, wie man glaubt, verstehst du? Was, wenn sie dich bestohlen hätte?« »Das würde sie nie tun.« »Und wenn doch?« »Sie würde es nicht tun.« »Hat sie dir denn einen Schlüssel für ihre Wohnung gegeben?« Mom war offenbar sauer auf mich, aber ich wusste nicht, warum. Ich hatte nichts Falsches getan. Und wenn doch, dann unabsichtlich. Ich hatte bestimmt nichts Falsches tun wollen.
    Ich rutschte auf der Rückbank der Limousine näher an Oma und sagte zu Mom: »Wozu sollte ich einen Schlüssel für ihre Wohnung brauchen?« Sie merkte, dass ich dichtmachte, und ich merkte, dass sie mich nicht wirklich liebte. Ich kannte die Wahrheit, und die Wahrheit war, dass wir jetzt zu meiner Beerdigung führen, wenn sie die Wahl gehabt hätte. Ich sah zum Schiebedach der Limousine hoch, und ich stellte mir die Welt vor der Erfindung von Decken vor, und das führte mich zur Frage: Hat eine Höhle keine Decke, oder besteht eine Höhle nur aus Decke? »Vielleicht kannst du mich das nächste Mal vorher fragen, okay?«»Sei doch nicht sauer auf mich«, sagte ich, und ich langte über Omas Schoß und verriegelte und entriegelte ein paar Mal die Tür. »Ich bin überhaupt nicht sauer auf dich«, sagte sie.»Auch kein kleines bisschen?« »Nein.« »Hast du mich noch lieb?« Wahrscheinlich war dies nicht gerade der Mo ment, um ihr zu gestehen, dass ich den Schlüssel schon längst für den Pizza-Hut-Boten, den Mann vom UPS und auch für die netten Typen von Greenpeace hatte nachmachen lassen, da mit sie mir Artikel über Rundschwanz-Seekühe und andere aussterbende Tierarten dalassen konnten, wenn Stan sich einen Kaffee holen ging. »Ich habe dich noch nie so lieb gehabt wie jetzt.«
    »Mom?« »Ja?« »Ich möchte dich etwas fragen.« »Okay.« »Was drückst du da in deiner Tasche?« Sie zog die Hand heraus und öffnete die Tasche, und die war leer. »Ich drücke einfach nur«, sagte sie.
    Obwohl es ein unglaublich trauriger Tag war, war Mom wunder-wunderschön. Ich suchte die ganze Zeit nach Worten, um es ihr zu sagen, aber alles, was mir einfiel, war blöd und falsch. Sie trug das Armband, das ich ihr gemacht hatte, und deshalb fühlte ich mich große Klasse. Ich mache gern Schmuck für sie, weil sie dann immer so glücklich ist, und sie glücklich zu machen ist noch eine meiner raisons d’être .
    Inzwischen ist alles anders, aber ich habe sehr lange davon geträumt, den Juwelierladen unserer Familie weiterzuführen. Dad meinte immer, ich sei zu klug, um einen Laden zu führen. Das leuchtete mir nie ein, weil er klüger war als ich. Ich sagte es ihm. »Zunächst einmal«, erwiderte er, »bin ich nicht klüger als du, ich weiß höchstens mehr, und das liegt auch nur daran, dass ich älter bin. Alle Eltern wissen mehr als ihre Kinder, und alle Kinder sind klüger als ihre Eltern.« »Außer, das Kind ist geistig behindert«, sagte ich. Darauf hatte er nichts zu erwidern. »Du hast ›zunächst einmal‹ gesagt. Was ist das ›sodann‹?« »Das ›sodann‹ ist: Wenn ich wirklich so klug wäre, warum führe ich dann einen Laden?« »Stimmt«, sagte ich. Und dann fiel mir etwas ein: »Nein, halt – es wäre doch gar kein Familienbetrieb, wenn er nicht von jemandem aus unserer Familie geführt würde.« Er erwiderte: »Doch, natürlich. Nur, dass es die Familie von jemand anderem wäre.« Ich fragte: »Ja, aber was ist dann mit unserer Familie? Eröffnen wir einen neuen Laden?« Er sagte: »Irgendwas eröffnen wir dann schon.« Darüber dachte ich bei meiner zweiten Fahrt in einer Limousine nach, als ich gemeinsam mit dem Mieter Dads leeren Sarg ausgraben wollte.
    Ein tolles Spiel, das ich mit Dad an manchen Sonntagen spielte, war die Aufklärungs-Expedition. Manchmal waren die se Aufklärungs-Expeditionen superleicht, etwa, wenn er mir den Auftrag gab, irgendetwas aus jedem Jahrzehnt des zwan zigsten Jahrhunderts mitzubringen – ich war schlau und brach te einen Steinbrocken mit–, und manchmal waren sie unglaub lich schwierig und zogen sich über Wochen hin. Für unsere letzte Expedition, die wir nicht mehr zu Ende führen konnten, gab er mir eine Karte vom Central Park. Ich sagte: »Und?« Und er sagte:
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