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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah
Autoren: Jonathan Safran Foer
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macht mehr Angst als der Tod.«
    »Und was steht auf dem ganzen Papier?«
    Er schrieb: »Sachen, die ich ihm nicht sagen konnte. Buch staben.«
    Um ehrlich zu sein – ich weiß nicht, wie viel ich in diesem Moment begriff.
    Ich glaube, ich begriff nicht, dass er mein Opa war, nicht einmal ansatzweise. Auf jeden Fall stellte ich keine Verbindung zwischen den Briefen in seinen Koffern und den Umschlägen in Omas Kommode her, auch wenn das vielleicht nahe liegend gewesen wäre.
    Aber irgendetwas muss ich begriffen haben, ich muss etwas begriffen haben, denn warum hätte ich sonst meine linke Hand öffnen sollen?
    Als ich nach Hause kam, war es 4:22 Uhr morgens. Mom lag auf dem Sofa neben der Tür. Ich dachte, sie wäre unglaublich sauer auf mich, aber sie sagte nichts. Sie gab mir nur einen Kuss auf den Kopf.
    »Willst du gar nicht wissen, wo ich gewesen bin?« Sie sagte: »Ich vertraue dir.« »Aber bist du denn gar nicht neugierig?« Sie sagte: »Wenn du möchtest, dass ich es weiß, wirst du es mir vermutlich von selbst erzählen.« »Deckst du mich noch richtig zu?« »Ich glaube, ich bleibe noch ein bisschen hier.« »Bist du sauer auf mich?« Sie schüttelte den Kopf. »Ist Ron sauer auf mich?« »Nein.« »Bist du sicher?« »Ja.«
    Ich ging in mein Zimmer.
    Meine Hände waren schmutzig, aber ich wusch sie nicht. Ich wollte, dass sie schmutzig blieben, wenigstens bis zum nächs ten Morgen. Ich hoffte, dass ich noch lange ein bisschen Dreck unter den Fingernägeln hätte und dass ein bisschen von dem mikroskopisch kleinen Material für immer dort bliebe.
    Ich knipste das Licht aus.
    Ich stellte meinen Rucksack auf den Fußboden, zog mich aus und stieg ins Bett.
    Ich starrte die Sterne an, die unter meiner Decke klebten.
    Wie wäre es, wenn jeder Wolkenkratzer eine Windmühle auf dem Dach hätte?
    Wie wäre es mit einem Armband aus Drachenschnur?
    Ein Armband aus Angelschnur?
    Wie wäre es, wenn Wolkenkratzer Wurzeln hätten?
    Wie wäre es, wenn man Wolkenkratzer begießen und ihnen klassische Musik vorspielen müsste und wenn man wüsste, was sie lieber mochten, Sonne oder Schatten?
    Wie wäre es mit einem Teekessel?
    Ich sprang aus dem Bett und rannte in Unterhose zur Tür.
    Mom lag noch auf dem Sofa. Sie las nicht, sie hörte auch keine Musik, sie tat gar nichts.
    Sie sagte: »Du bist ja noch wach.«
    Ich fing an zu weinen.
    Sie breitete die Arme aus und fragte: »Was ist denn?«
    Ich rannte zu ihr und sagte: »Ich will nicht ins Kranken haus.«
    Sie zog mich so an sich, dass mein Kopf auf der weichen Stelle ihrer Schulter lag, und sie drückte mich. »Du kommst nicht ins Krankenhaus.«
    Ich erwiderte: »Ich verspreche auch, dass es mir bald wieder besser geht.«
    Sie sagte: »Du bist doch völlig in Ordnung.«
    »Ich werde glücklich und normal sein.«
    Sie legte mir ihre Finger auf den Nacken.
    Ich sagte zu ihr: »Ich habe wirklich alles versucht. Ich weiß nicht, was ich noch hätte tun können.«
    Sie sagte: »Dad wäre sehr stolz auf dich gewesen.«
    »Glaubst du?«
    »Ich weiß es.«
    Ich weinte noch mehr. Ich hätte ihr am liebsten alle Lügen gebeichtet, die ich ihr erzählt hatte. Und am schönsten wäre es gewesen, wenn sie mir danach gesagt hätte, alles sei gut, weil man manchmal schlecht sein müsse, um etwas Gutes vollbrin gen zu können. Und dann hätte ich ihr am liebsten vom Tele fon erzählt. Und dann hätte sie mir erzählen müssen, dass Dad trotzdem noch stolz auf mich gewesen wäre.
    Sie sagte: »Dad hat mich damals aus dem Gebäude angeru fen.«
    Ich löste mich von ihr.
    »Was?«
    »Er hat aus dem Gebäude angerufen.«
    »Auf deinem Handy?«
    Sie nickte, und zum ersten Mal seit Dads Tod erlebte ich, dass sie ihre Tränen nicht zurückhalten konnte. War sie er leichtert? War sie bedrückt? Dankbar? Erschöpft?
    »Was hat er gesagt?«
    »Er hat mir gesagt, er sei auf der Straße, er sei aus dem Ge bäude entkommen. Er hat gesagt, er sei auf dem Heimweg.«
    »Aber das hat nicht gestimmt.«
    »Nein.«
    War ich wütend? War ich froh?
    »Er hat gelogen, damit du dir keine Sorgen machst.«
    »Genau.«
    Frustriert? Panisch? Optimistisch?
    »Aber er hat gewusst, dass du es gewusst hast.«
    »Das hat er, ja.«
    Ich legte ihr meine Finger auf den Nacken, unter ihren Haaransatz.
    Ich weiß nicht mehr, wie spät es wurde.
    Wahrscheinlich bin ich eingeschlafen, aber ich kann mich nicht erinnern. Ich musste so viel weinen, dass alles mit allem verschwamm. Irgendwann trug sie mich in mein Zimmer. Dann
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