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Vergraben

Vergraben

Titel: Vergraben
Autoren: Neil Cross
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1
    Es klingelte an der Tür.
    Nathan hatte ein ungutes Gefühl, aber er achtete nicht weiter darauf, schaltete den Fernseher stumm und öffnete. Draußen im Dunkeln stand Bob grinsend und leicht nach vorne gebeugt im Regen. Er sagte: »Hallo, Kumpel.«
    »Wie hast du mich gefunden?«, fragte Nathan.
    »Ich habe gesucht.«
    Nathan versuchte, die Tür zuzuschlagen, aber Bob streckte seine große Hand aus und hielt sie fest. Dann zog er die Hand zurück und sagte: »Der Wald wird gerodet.«
    »Was?«
    »Der Wald wird gerodet.«
    »Warum?«
    »Ist das wichtig? Da wird eine Wohnsiedlung gebaut.«
    »Natürlich ist es nicht wichtig. Was für eine Wohnsiedlung?«
    »Eine, in der Leute wohnen. Hörst du mir überhaupt zu?«
    »Ja. Na klar.«
    Nathan schaute sich um, als stünde jemand hinter ihm. Aber da war niemand. Es war Dienstagabend, was bedeutete, dass Holly spät nach Hause kommen würde.
    Er sagte: »Okay. Wir telefonieren. Ruf mich auf der Arbeit an.«
    »Ich bin aber jetzt hier.«
    »Du kannst nicht reinkommen. Treffen wir uns woanders. Morgen.«
    »Ich bin in zwei Minuten wieder weg.«
    »Meine Frau kommt gleich.«
    Aber Bob stand einfach da und wartete im Regen. Also atmete Nathan tief ein und machte einen Schritt zur Seite. Bob trat über die Schwelle und tropfte den Holzboden voll.
    Er hatte die vielen eingerahmten Fotos im Flur bemerkt.
    Nathan wartete, während Bob einen kleinen Schritt vorwärts machte, um sich die Bilder genauer anzusehen. Ein Baby, nackt auf einem Handtuch. Ein Mädchen mit Zahnlücke und einem Pagenschnitt. Der Pony war stumpf und etwas schief – offensichtlich von der Mutter nachgeschnitten. Ein Urlaubsfoto, auf dem das Mädchen ein junger Teenager war, die Haare kurz, blondiert und stachelig. Sie stand in einer orangefarbenen Schwimmweste auf einem Bootsdeck und hielt eine lange, silberne Makrele hoch. Auf diesem Foto lachte sie.
    Bob betrachtete die Bilder lange.
    Als er sich zu Nathan umdrehte, versagte seine Stimme beinahe.
    »Was zur Hölle ist das denn?«
    »Ich hab doch gesagt, du sollst nicht reinkommen.«
    Bob ließ sich langsam an der Wand nach unten gleiten und setzte sich auf die gebeizten viktorianischen Dielen. Er sah falsch dort aus, wie eine optische Täuschung, wie eine Zeichnung, bei der die Perspektive und der Maßstab verändert worden waren.
    Fingerspitzen strichen über Nathans Nackenhaare.
    Im Wohnzimmer flimmerte der Fernseher, und Nathan hatte den Eindruck, dass die Lampen sich verdunkelten, flackerten und dann wieder heller wurden.

2
    Nathan und Bob hatten sich vor fünfzehn Jahren kennengelernt, im Sommer 1993.
    Nathan bewohnte damals ein kleines Zimmer in einem Haus in der Maple Road. Ein Jahr nach seinem Universitätsabschluss lebte er von Sozialhilfe und wartete darauf, einen Job beim vierzehntäglich erscheinenden Veranstaltungsmagazin der Stadt zu bekommen. Das Magazin hatte sich noch nicht damit befasst, seine Initiativbewerbungen abzulehnen, ebenso wenig wie seine unaufgefordert eingesandten Konzert-, Film- und Plattenrezensionen. Nathan fühlte sich durch dieses Fehlen ausdrücklicher Ablehnung ermutigt. Sein Plan war, herumzusitzen und sich weiter zu bewerben.
    Weil alle Zimmer in der Maple Road 30 vermietet waren, gab es keinen Gemeinschaftsraum, in dem man sich treffen konnte. Also verbrachten Nathan und seine Mitbewohner die Tage ihrer Arbeitslosigkeit damit, von Zimmer zu Zimmer zu ziehen und jede Menge Happy-Shopper -Tee zu trinken.
    An jenem Nachmittag war es ziemlich still in Petes Zimmer, man hörte nur das vibrierende Dröhnen einer E-Saite, die an einen großen Verstärker und ein digitales Delay-Pedal angeschlossen war.
    Nathan lag im Bett und hörte zu. Dann schwang er die Beine über die Bettkante, zog sich eine Hose und ein verwaschenes Band-T-Shirt an und schlurfte über den schäbigen Flur.
    Weil Pete am längsten im Haus wohnte, stand ihm das größte Zimmer zu. Darin befand sich eine alte Matratze, die auch als Sofa diente. Das richtige Sofa stammte aus einem Container vor dem Nachbarhaus. An der Wand stand eine monumentale, zusammengestückelte Stereoanlage, deren Einzelteile durch Klebeband, farbige Kabel und verlötete Schaltungen miteinander verbunden waren.
    Pete hatte immer Besuch. Oft waren es Mitglieder des Peace Convoy – nach Patschuli stinkende Anarcho-Punks, die endlos langweilige Geschichten vom letzten Stonehenge Free Festival erzählten. Es kamen aber auch Gruftis und manchmal Raver, eine Jugendkultur, für die
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