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Vergraben

Vergraben

Titel: Vergraben
Autoren: Neil Cross
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gefühlt?
    Ich weiß gar nicht genau, wie ich mich gefühlt habe. Es war alles irgendwie komisch. Wie ein Schock oder so. Mum heulte und Dad trank, und die ganzen Tanten, Onkel, Nachbarn und Oma und Opa waren bei uns. Es war irgendwie, als wäre ich gar nicht da.
    Was geschah dann?
    Na ja, er wurde begraben.
    Warst du bei der Beerdigung dabei?
    Ja. Aber ich hab nicht viel drauf gegeben. Ich sitz da in dieser blöden Kirchenbank in einem Anzug und einem Hemd, das am Hals viel zu eng ist. Und niemand hat mir auch nur zwei vernünftige Sätze über ihn gesagt. Es ist ein echt heißer Tag. Du weißt schon, der Sommer mit den ganzen Krawallen in St. Paul’s, Toxteth, Brixton und überall.
    Egal. Auf dem Heimweg im Auto sage ich kein Wort. Ich weine nicht oder so, ich sage nur einfach nichts. Sobald das Auto auf der Farm hält, renne ich hinein. Mum hat dieses Riesenbuffet vorbereitet. Sandwiches und so weiter – Schweinefleischpasteten, einen gewaltigen Schinken.
    Dad kommt zu mir und sagt: Tu das deiner Mutter nicht an, nicht ausgerechnet heute.
    Also fange ich an zu heulen und renne nach oben. Ich bin so wütend, dass ich nicht weiß, wohin mit mir. Ich schaue mich nach etwas um, was ich zerschlagen kann. Ich will etwas kaputt machen – etwas, was mir richtig viel bedeutet, verstehst du?
    Das ist ganz normal.
    Ich stehe also mit geballten Fäusten in der Mitte meines Zimmers und da fällt mir ein: die Specials.
    David hatte sie live gesehen, 1980 im   Locarno   in Bristol. Er hatte draußen gewartet und sich das Album signieren lassen. Zwar nicht von Terry Hall, aber von Neville und von Roddy Radiation. Es war Davids größter Schatz, und ich hatte es immer haben wollen. Ich klaute es oft und versteckte es zwischen meinen Platten. Ich hatte nur etwa fünf –   Top of the Pops   und Disney-Lieder und so –, also fand er es immer ganz leicht wieder. Egal. Ich gehe also in Davids Zimmer und knie mich hin, und da ist es: sein kostbarster Besitz, das erste Specials-Album, signiert von Neville Staple und Roddy Radiation.
    Ich halte es in den Händen – ich will es gerade zerbrechen –, als ich etwas im Spiegel des Kleiderschranks wahrnehme. Ich schaue auf und denke, das muss Dad sein, und ich bekomme gleich mächtig Ärger. Aber es ist nicht Dad. Es ist David.
    Dein Bruder David?
    Ja, mein toter Bruder David.
    Was hat er gemacht?
    Er saß einfach da. Lächelte mich an.
    Hat er etwas gesagt?
    Das brauchte er nicht. Es war das gütigste Lächeln, das ich jemals gesehen habe. Als wüsste er genau, was ich vorhatte, und warum. Das Komische ist, mein erster Gedanke war, das Album wieder an seinen Platz zurückzustellen. Das mache ich dann auch, und als ich wieder aufsehe, ist David weg.
    Was geschah dann?
    Ich sitze da auf der Bettkante, neben der Stelle, wo David gesessen hatte. Dann gehe ich runter zum Leichenschmaus und entschuldige mich bei meinen Eltern. Sie waren nicht sauer.
    Hast du ihnen erzählt, dass du David gesehen hast?
    Dafür gab es keinen Grund.
    Ist dir vorher schon einmal etwas Ähnliches passiert?
    Nein.
    Und seither?
    Nein.
    Noch eine letzte Frage. Was hatte David an?
    [Pause]
    Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Komisch, oder?

    Bob lehnte sich auf dem Sofa zurück und steckte das Diktiergerät ein.
    Pete zündete den dünnen Joint wieder an, den er hatte ausgehen lassen.
    »Krass«, sagte Nathan.
    Pete nahm einen Zug, atmete aus, und meinte: »Irre, was?«
    Die Tür knarrte laut, und Nathans Herz begann zu rasen. Er blickte über die Schulter zur Tür und sagte: »Leute, ich krieg Schiss.«
    »Manchmal kann man mit dem Erzählen solcher Geschichten etwas heraufbeschwören«, erklärte Bob.
    »Was kann man heraufbeschwören?«
    »Ich weiß nicht. Irgendwas.«
    Nathan fror an den Füßen. Der zerlöcherte Teppich kratzte an seinen Sohlen. »Was meinst du damit?«, fragte er.
    »Geister sind meine Spezialität.«
    »Deine Spezialität.«
    »Ich untersuche sie.«
    »Ja, klar.«
    »Wirklich. Ich promoviere seit zwei Jahren. In Psychologie.«
    »Aber es gibt keine Geister.« Er warf Pete einen kurzen, schuldbewussten Blick zu. »Sorry, Alter.«
    Pete zuckte ungerührt mit den Schultern.
    Bob begann seine Aktentasche zu packen und fragte: »Also ist Pete ein Lügner?«
    »Natürlich nicht.«
    »Ist er verrückt?«
    »Nein.«
    »Hat er sich das eingebildet?«
    »Nein.«
    »Was war dann los?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Ich auch nicht. Deswegen untersuche ich es.«

    Bob blieb noch eine
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