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Der Wachsblumenstrauß

Der Wachsblumenstrauß

Titel: Der Wachsblumenstrauß
Autoren: Agatha Christie
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I
     
    D er alte Lanscombe schlurfte von Zimmer zu Zimmer und zog die Rouleaus hoch. Ab und zu spähte er zwischen zusammengekniffenen wässrigen Augen zum Fenster hinaus.
    Bald würden sie von der Beerdigung zurückkommen. Seine taperigen Schritte beschleunigten sich ein wenig. Es gab so viele Fenster.
    Enderby Hall war ein weitläufiges viktorianisches Anwesen im neogotischen Stil. Die Vorhänge waren aus schwerem, längst verblasstem Brokat oder Samt, in manchen Zimmern bespannte noch verblichene Seide die Wände. Im grünen Salon warf der Butler einen Blick auf das Gemälde, das über dem Kamin hing; es zeigte den alten Cornelius Abernethie, der Enderby Hall dereinst hatte erbauen lassen. Sein dunkler Bart ragte angriffslustig vom Kinn ab, seine Hand ruhte auf einem Globus – ob auf Wunsch des Porträtierten hin oder vom Maler als symbolischer Blickfang gedacht, wusste niemand mehr zu sagen.
    Ein sehr beeindruckender Mann, dachte der alte Lanscombe immer und war froh, dass er nie persönlich seine Bekanntschaft geschlossen hatte. Sein gnädiger Herr war Mr Richard gewesen, und ein sehr guter Herr war er gewesen. Ganz plötzlich hatte er das Zeitliche gesegnet, doch, ganz plötzlich, obwohl der Arzt in letzter Zeit immer häufiger nach Enderby hatte kommen müssen. Aber der gnädige Herr hatte sich nie vom Schock über den Tod des jungen Mr Mortimer erholt. Kopfschüttelnd tappelte der alte Mann durch die Verbindungstür ins weiße Boudoir. Entsetzlich war das gewesen, eine regelrechte Tragödie. So ein feiner, aufrechter junger Herr, und so lebenskräftig und gesund dazu. Dass ihm ein solches Unglück passieren würde, hätte man nie für möglich gehalten. Jammervoll war das gewesen, wirklich jammervoll. Und dann Mr Gordon, der im Krieg gefallen war. Eins war zum anderen gekommen. Aber so ging das Leben heutzutage. Das war einfach zu viel gewesen für den gnädigen Herrn. Obwohl er vor einer Woche noch fast der Alte gewesen war.
    Das dritte Rouleau im weißen Boudoir ließ sich nicht hochziehen, wie es sollte. Lanscombe konnte es ein Stück bewegen, dann klemmte es. Die Federn waren ausgeleiert – das war’s –, und die Rouleaus waren uralt, wie alles hier im Haus. Und heutzutage war es unmöglich, die alten Sachen reparieren zu lassen. Zu altmodisch, sagten die Handwerker dann immer und schüttelten den Kopf, anmaßend, wie es ihre Art war – als ob die alten Sachen nicht viel besser wären als die neuen! Er konnte ein Lied davon singen. Dies neue Zeug war Schund, zumindest das meiste davon, ging einem unter den Händen kaputt. Schäbiges Material, schäbig verarbeitet. O ja, er konnte ein Lied davon singen.
    Mit diesem Rouleau würde er nicht weiterkommen, wenn er nicht die Leiter holte. Aber mittlerweile stieg er nicht mehr gern auf die Leiter, dann wurde ihm immer schwummerig. Er würde das Rouleau einfach unten lassen. Es war sowieso gleichgültig, denn das weiße Boudoir ging nicht nach vorne hinaus, wo die Leute das Rouleau sehen würden, wenn sie von der Beerdigung zurückkamen – und überhaupt wurde der Raum gar nicht mehr benutzt. Es war ein Damenzimmer, und in Enderby gab es schon lange keine Herrin mehr. Ein Jammer, dass Mr Mortimer nie geheiratet hatte. Immerzu war er zum Fischen nach Norwegen gefahren oder zum Jagen nach Schottland und dann zu diesem neumodischen Wintersport in die Schweiz, anstatt eine nette junge Dame zu heiraten und sich häuslich niederzulassen, mit Kindern, die durchs Haus wuselten. Es war lange her, dass irgendwelche Kinder durchs Haus gelaufen waren.
    Lanscombes Gedanken wanderten weit zurück zu einer Zeit, die ihm klar und deutlich vor Augen stand – viel klarer und deutlicher als die letzten zwanzig Jahre, die alle verschwammen und durcheinander wirbelten, so dass er gar nicht mehr richtig sagen konnte, welche Herrschaften gekommen und welche gegangen waren oder wie sie überhaupt ausgesehen hatten. Aber an die alten Zeiten erinnerte er sich noch sehr gut.
    Mr Richard war zu seinen jüngeren Geschwistern fast wie ein Vater gewesen. Vierundzwanzig war er gewesen, als sein Vater die Augen geschlossen hatte, und er hatte sich sofort ins Geschäft gestürzt, war jeden Tag pünktlich auf die Minute aus dem Haus gegangen, hatte auf dem Anwesen alles weitergeführt wie bisher und so prachtvoll, wie man es sich nur wünschen konnte. Ein sehr glückliches Haus war es gewesen, mit all den heranwachsenden Damen und Herren. Natürlich, hin und wieder hatte es auch Streit
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