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Erschiess die Apfelsine

Erschiess die Apfelsine

Titel: Erschiess die Apfelsine
Autoren: Mikael Niemi
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wird es bleiben. Mein altes Ich gibt es nicht mehr, ich bin gestorben und ein anderer geworden, aber das interessiert niemanden. Für die ist alles wie vorher. Die Welt ist dieselbe, und keiner merkt, dass ich ausgestiegen bin.
     
    Der muss einen Totalschaden haben.
    Du hättest sein Gesicht sehen sollen, haha …
     
    Nach der Schule ging ich nach Hause und habe mich ins »Büro« gesetzt, wie Mama es nennt. Ich habe kein eigenes Zimmer, weil wir nur in einer Ein-Zimmer-Wohnung leben, aber wir haben alles so eingerichtet, dass wir uns so wenig wie möglich auf die Nerven gehen. Das »Büro« befindet sich in der Küche und besteht aus einem Schreibtisch mit einem uralten Computer, an dem Mama ihre Rechnungen bezahlt, einem Regal mit Ordnern und einem Aktenschränkchen, wo mir die beiden unteren Schubladen gehören. Die Küchentür kann geschlossen werden, wenn der andere Fernsehen guckt, und dort in dem Geruch vom Bratenfett nach dem Essen mache ich normalerweise meine Hausaufgaben für die Schule.
    Das heißt: so habe ich es bis jetzt gemacht. Aber nun gibt es nur noch eins: aussteigen. Das Gymnasium links liegen lassen, die Schulbücher ins Altpapier werfen und das Zuchthaus verlassen. Mama wird wahnsinnig werden. Mich einen Sozialfall nennen. Aber lieber ihr Wutausbruch als noch ein einziger Tag mit diesen Erniedrigungen. Gleich morgen werde ich zum Arbeitsamt gehen. Anfangen zu stempeln. Den ganzen Winter mit kaputten Hosen herumlaufen, bestenfalls im Sommer einen Praktikumsplatz bekommen und Friedhöfe harken.
    Mir war trübsinnig zu Mute. So hatte es ja nicht kommen sollen. Ich opferte schließlich mein altes Leben, um ein neues zu bekommen.
     
    Ohne große Begeisterung suchte ich eine Tiefkühlpizza heraus und machte sie in der Mikrowelle heiß. Sie schmeckte fade und sinnlos. Warum schmecken tiefgefrorene Pizzen immer nach alten Turnschuhen, während die frischgebackenen aus der Pizzeria so wahnsinnig gut sind? Äußerlich sehen sie vollkommen gleich aus, und sie enthalten die gleichen Zutaten: Schinken, Tomate, Käse und alles andere. Das müssten die Herren Professoren mal untersuchen.
    Hinterher war ich nur halb satt, obwohl ich auch noch drei Glas Milch getrunken hatte. Ich schlich zurück ins »Büro« und starrte den dunklen Computerbildschirm an. Scheiß aufs Gymnasium. Aussteigen. Mich in einer Mulde im Wald verstecken und auf die ganze Welt pfeifen. Sabina Stare gab es nicht mehr. Ich musste sie wie ein Pflaster abreißen, wie eine Brandwunde von der Haut kratzen.
    Der Gedanke an sie tat so weh, dass ich mich gekrümmt vorbeugen musste. Ich griff nach dem Erstbesten, einem Stift. Fand ein Stück Schmierpapier, ließ beide sich begegnen. Sah, wie die Bleistiftspitze Worte formte:
     
    Sterne aus Blut, wenn die Brust geöffnet wird.
     
    Das kam von ganz allein. Ganz automatisch. Als wäre nicht ich derjenige, der das schrieb, als würde sich der Stift von allein bewegen. Erstaunt las ich die Zeile, immer und immer wieder.
    Sterne aus Blut, wenn die Brust geöffnet wird.
    Das war eine Nachricht an mich selbst. Doch was bedeutete sie? Dass ich am Herzen operiert werden sollte? Dass ich erschossen werden würde? Oder handelte es von Hoffnung, von einer Art Feuerwerk?
    Eine ganze Weile lang saß ich nur da und spürte die Kraft der Worte. Und langsam begriff ich es. Das war ein Gedicht. Das war die erste Zeile eines Gedichts. Aus reinem Zufall hatte ich einen Faden gefunden, an dem ich ziehen konnte. Der Rest des Gedichts war noch in mir, eingewickelt in ein riesenhaftes Wollknäuel.
    Ich beugte mich vor, umklammerte den Stift, blinzelte und versuchte es noch einmal:
     
    Fontänen der Ekstase. Von großer Ekstase.
    Brennender Ekstase.
     
    Nein. Ich strich es durch.
     
    Zottiger Asphalt auf dem Tier.
     
    Ja, da war es zurück. Jetzt bekam ich es wieder zu packen. Es ging darum, sich nicht anzuspannen, nicht zu viel zu denken.
     
    Zwei Stürme in der Pistole,
    durch die Stadt schlängelt sich ein zerborstenes Rohr
    auf der Jagd nach Wasser.
     
    Ich legte den Stift hin. Das Gedicht war fertig. Meine Hand zitterte, es prickelte in den Fingerspitzen, als würden sie auftauen, nachdem sie erfroren gewesen waren. Ich las das Gedicht immer und immer wieder. Ganz aufgeregt. Das sagte etwas über mich, was ich selbst nicht wusste. Es erklärte nichts. Und trotzdem war es hundertprozentig wahr.
    Im selben Moment kam Mama nach Hause. Schnell versteckte ich den Zettel in der Schreibtischschublade.
    »Du hast
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