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Erschiess die Apfelsine

Erschiess die Apfelsine

Titel: Erschiess die Apfelsine
Autoren: Mikael Niemi
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oder dreimal zuschlagen, das Wichtige ist, dass er so fällt, dass ich ihm seine Waffe abnehmen kann. Ich nehme ihm die MP ab und rette die Welt. So ist der Plan. Ich lasse eine ganze Schulklasse mit Arschgeigen weiterleben. Sie dürfen in ihren Unterricht gehen, wieder raus und durchs Leben wandern auf ihre Karrieren zu mit Universität, Top- Job und Traumgehältern, ohne dass jemals einer erfährt, wie nahe er dem Tode war.
    Aber etwas geht schief. Oder – ich weiß es gar nicht genau, es ist einfach weg. Alles ist ausradiert, alles, was passiert ist, nachdem ich zugeschlagen habe. Wie es dann abgelaufen ist, das kann ich nicht sagen. Das ist der Preis, den man bezahlen muss, wenn man stirbt. Man wird niemals erfahren, wie es sich zugetragen hat. Aber das ist nicht so schlimm, die Welt verschwindet hinter dem Horizont …
     
    »Wie geht es dir?«
    Sanfte Hände an der Wange, auf der Stirn. Weiches Haar, das kitzelt, der Duft frischer Äpfel.
    »Wie geht es dir«, wiederholt eine Stimme, »antworte, bitte …«
    »Ääähh …«
    »Du warst fantastisch. Einfach fantastisch!«
    »Was?«
    Mühsam setzte ich mich auf. Ich hatte auf einem Teppich gelegen. Helllila. Flauschig. Mein Körper war schwer und verschwitzt. Was hatte sie mit mir gemacht?
    »Was du gelesen hast«, sagte sie. »Deine Gedichte.«
    »Meine Mutter hat meine Gedichte verbrannt …«
    »Du hast sie aus dem Gedächtnis gelesen. Einfach auswendig. Es ist geradezu aus dir herausgeflossen, es war Wahnsinn, es sind einfach so Gedichte aus dir herausgeströmt.«
    »Tatsächlich?«
    »Schwer zu glauben, wenn man dich so ansieht. Dass du so vieles in dir hast.«
    Ihre Augen waren dunkelgrün. Wie Laubkugeln. Wie Blatttunnel. Wie …
    »Es wird noch mehr kommen«, flüsterte sie. »Ich sehe, wie die Gedichte wachsen …«
    »Ich glaube, ich bin in Ohnmacht gefallen«, murmelte ich.
    »Ja, du bist auf den Teppich gefallen.«
    »Aus irgendeinem Grund bin ich umgekippt. Ich kann mich nicht mehr erinnern, warum, es ist weg.«
    »Kannst du dich an gar nichts mehr erinnern?«
    »Doch, dass wir uns getroffen haben natürlich. Und dass wir bis zum Teich gegangen sind.«
    »Aber das war doch gestern. Erinnerst du dich an gar nichts mehr von heute?«
    »Nun ja … das ist alles ziemlich verschwommen.«
    »Du warst doch in der Schule. Und hinterher bist du mit mir nach Hause gegangen. Hierher, wo wir jetzt sind.«
    »Dann ist nichts in der Schule passiert?«
    »Die Schulleiterin hat davon gelabert, dass sie Videokameras installieren wollen.«
    »Aber sonst … es ist nichts passiert? … nichts Schlimmeres?«
    Sie musste lachen. Bekam kleine Grübchen in der Wange.
    »Nein, was sollte das denn sein?«
    »Im Schülerklo.«
    »Ja, stimmt. Da waren Blutspuren auf dem Boden. Aber keiner wusste, von wem.«
    »Lag keiner da? Ein Junge?«
    »Nein, wovon redest du? Weißt du da mehr?«
    Da beugte ich mich vorsichtig vor. Suchte ihre heißen Lippen, das Rote drinnen. Traute mich aber nicht.
    »Leonardo …«, murmelte ich. »Seid ihr, ich meine, Leonardo und du …«
    »Nur gute Freunde«, lachte sie. »Wusstest du das nicht?«
    »Was?«
    Sie legte mir sanft die Hand auf den Nacken.
    »Leonardo ist der tollste Schwule, den ich kenne.«
    Schwul. Schwulschwulschwulschwul. Das schönste Wort der Welt.
    »Lies noch einmal ein Gedicht«, flüsterte Lavendel.
    »Aber meine Mutter hat sie doch verbrannt …«
    »Ach was, dir fällt es schon ein. Ich habe es doch gerade gehört, du kannst sie alle auswendig.«
    Dann küsste sie mich. Und ich öffnete mich für sie, voll und ganz. Wie eine Apfelsine, sonnenreif und saftig. Sie hatte Recht. Alles war da, die Gedichte. Und das Leben. Das gerade erst begonnen hatte.
     

HINTERHER
     
    Pålles Hausklingel war durch die Tür zu hören, aber niemand machte auf. Ich versuchte es mit der Klinke. Abgeschlossen. Kein Hundegebell, kein Lebenszeichen. Sie waren immer noch verreist.
    »Pålle? Bist du da?«
    Ich ging zu ihrer Garage.
    Zog mich hoch, um durch das kleine Fenster gucken zu können.
    Da drinnen stand ihr Auto.
    Pålle hatte gesagt, seine Eltern wären mit dem Auto weggefahren. Waren sie zurückgekommen?
    Zögernd ging ich zum Briefkasten an der Einfahrt. Der Deckel ließ sich nicht mehr schließen. Der Kasten quoll über von Zeitungen und Reklame. Ich drehte eine Runde in dem kleinen Garten und schaute hinter Büsche und Hecken. Pålles Fahrrad war nirgends zu entdecken.
    An der Garagenwand lehnte eine Aluminiumleiter. Ich stellte sie
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