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Beiss mich - Roman

Beiss mich - Roman

Titel: Beiss mich - Roman
Autoren: Eva Voeller
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1. Kapitel
    A ls ich ihm das erste Mal begegnete, fiel mir auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches an ihm auf. Falls er mir in irgendeiner Weise merkwürdig vorkam, dann höchstens deswegen, weil er wie angewurzelt dastand. Regungslos wie eine Statue wartete er am Zaun beim Praxisschild und starrte in meiner Richtung die Straße entlang. Er sah aus wie ein ganz normaler, dunkel gekleideter Mann. Es gab nicht den geringsten Grund, beim Anblick dieses hochgewachsenen Fremden in Panik zu geraten und laut schreiend davonzulaufen. Es war nichts an ihm, das den Eindruck hervorgerufen hätte, er sei nicht ganz menschlich.
    Allerdings wusste ich auch damals nicht das über ihn, was ich heute weiß.
    Beeindruckend fand ich auf den ersten Blick höchstens seinen Wintermantel, ein auffallend edles Stück, dem trotz des Schneetreibens und der allmählich aufziehenden Dämmerung schon von Weitem anzusehen war, dass es mehr gekostet hatte, als ich in einem halben Jahr zum Leben ausgab. Für edle Stoffe wie Kaschmir oder Seide habe ich einen unbestechlichen Blick, auch wenn die Zeiten, in denen ich mich selbst in solche schmeichelnden Kreationen hüllen konnte, erst kommen mussten.
    Als ich näher herankam, fielen mir auch die übrigen Kleidungsstücke des Mannes ins Auge. Ein langer Schal, den er mehrmals um den Hals gewunden hatte und der ebenfalls aus Kaschmir sein musste, außerdem Winterschuhe aus hochglänzend poliertem Leder und ebenso wie der Mantel vermutlich hand- und maßgefertigt.
    Dann war ich bis auf zehn Schritte herangekommen und nahm erstmalig bewusst den Menschen in Augenschein, der in dem makellosen Outfit steckte. Er war dunkelhaarig, breitschultrig und groß, mindestens eins achtzig, soweit ich es aus meiner beklagenswert niedrigen Perspektive beurteilen konnte. Für mich sind alle Zeitgenossen groß, sieht man von Kleinkindern und Liliputanern ab. Was allerdings nicht bedeutete, dass ich, was meine Größe betraf, der Natur nicht ein wenig auf die Sprünge half.
    Ich fand im Alter von fünfzehn Jahren heraus, welches Wunder hohe Absätze vollbringen können, und investierte fortan mein ganzes Taschengeld in abenteuerliches Schuhwerk. Damit war ich in der Lage, den meisten anderen Frauen Auge in Auge gegenüberzutreten – vorausgesetzt, sie trugen flache Schuhe.
    An diesem Dezembertag meiner ersten Begegnung mit Martin trug ich allerdings schlichte, absatzlose Thermostiefel, denn meine Eitelkeit ging nicht so weit, dass ich auf Stöckelschuhen durch Schneewehen hätte waten oder meine guten Stiefeletten mit Streusalzflecken hätte versauen wollen.
    Seit Jahren hatte es nicht mehr so viel geschneit. Dicke weiße Wächten hingen von den Dachtraufen über der Praxis, und die schmiedeeisernen Zaunspitzen trugen pudrige Zipfelmützen. Es war grimmig kalt, weshalb die Pracht wohl noch eine ganze Weile vorhalten würde. Das Thermometer auf meinem Balkon hatte am Morgen minus zwölf Grad angezeigt. Trotz meiner dicken Stiefel und meiner fast knielangen Thermojacke war ich bereits auf dem kurzen Weg von meiner Wohnung bis zur Haltestelle völlig durchgefroren. Die dreißigminütige Fahrt in der überheizten Straßenbahn hatte mich wieder aufgewärmt, doch nach dem Aussteigen musste ich noch eine gute Viertelstunde durch die Kälte marschieren und mutierte flugs zu einem Eiszapfen. Ich konnte gar nicht so heftig zittern, wie ich fror.
    Dem Mann beim Zaun schien nicht kalt zu sein, obwohl sein Wintermantel kaum so warm sein konnte wie meine Jacke, denn für ein Pelzfutter war die Silhouette des Kaschmirmantels nicht voluminös genug.
    Beim Näherkommen sah ich, dass der Mann jung war, eigentlich zu jung für derart elegante Kleidung, höchstens zwanzig. Doch dann hatte ich mich ihm bis auf ein paar Schritte genähert und musste meine Einschätzung revidieren. Vermutlich war er ein paar Jahre älter, eher so alt wie ich selbst, also Mitte zwanzig. Sein Gesicht war zwar auffallend jugendlich, doch es zeigte einen gewissen Ausdruck von Verdrossenheit, der von einiger Lebenserfahrung kündete. Um seinen Mund lag ein kummervoller Zug, und seine Augen, die so schiefergrau waren wie der tief hängende Winterhimmel, wirkten nahezu gequält, während er mich beim Näherkommen betrachtete.
    Herabwirbelnde Schneeflocken schmolzen in seinem kohlefarbenen Haar, das überraschenderweise trotz der Nässe tadellos frisiert anlag.
    Der Fremde schien wie ich kein Freund winterlicher Kopfbedeckungen zu sein, doch meine Frisur hatte
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