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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger
Autoren: Reinhard Stoeckel
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Nachspiel
    Vor dem Gasthof blühten die Kastanien. Wind machte sich auf, als Henri Helder den Festsaal betrat. Der Chor der Eisenbahner, gebildet aus dem Stationsvorsteher und der dreiköpfigen Stellwerksbesatzung von Krahnsdorf-Brandt, verstärkt durch den vietnamesischen Betreiber der Imbissbude vom Bahnhofsvorplatz, sang gerade »Ännchen von Tharau«. Noch steif von der langen Fahrt vom Flughafen blieb Helder einen Moment lang unentschlossen in der Tür stehen und starrte auf die Rücken der Sänger. Er hatte sich verspätet, obwohl er ein Taxi genommen hatte und nicht, wie es sich für einen Eisenbahner gehörte, den Zug. Vorsichtig stellte Helder seinen Koffer ab und schob ihn sacht mit dem Fuß über die in Jahrzehnten abgetanzten Dielen zur Seite.
    Das Lied endete, man klatschte, und die Sänger setzten sich zu den anderen Gästen, die sich wieder ihren Kuchentellern zuwandten. Die Mutter winkte und nun, aufmerksam geworden, auch der Vater. Helder hob leicht die linke Hand zum Gruß, während die Finger der rechten sich fester um die Henkel einer abgenutzten Kunststofftüte krampften.
    Irgendwo fiel eine Kuchengabel klappernd zu Boden.
Da lief er los.
Er lief quer durch den Festsaal, die im jahrelangen Büroalltag nach vorn gefallenen Schultern zurückgedrückt, und sein blassblauer Blick schien alles beiseiteschieben zu wollen, obwohl da niemand war, den er hätte zur Seite schieben müssen. Etwas in ihm sagte: Du musst das nicht tun! Der, der lief, antwortete: Doch, ich muss. Bloß nicht stehen bleiben. Umkehren erst recht nicht.
    Das angeregte Gemurmel wurde leiser, hier und da klirrte noch ein Löffel, wurde eine Tasse mit leichtem Scheppern abgesetzt. Helder griff einen der Stühle, die unbenutzt neben dem alten Saalofen standen, und postierte ihn seinen Eltern gegenüber, gleich neben dem Platz, der für ihn reserviert war. Dann holte er aus der Tüte ein Paar Schnürschuhe, die, wie jeder sah, weder neu noch ungetragen waren. An den Sohlen schienen sie verschmort, und auf Höhe der Knöchel war ein merkwürdiges Muster ins Leder geprägt.
    Als der Vater die Schuhe erkannte, erblassten seine eben noch glühenden Bäckchen. Selbst die goldenen Knöpfe seiner Eisenbahneruniform zogen, so schien es, ihr Glänzen zurück. Die Mutter nestelte nervös an dem goldenen Kranz in ihrem blaugrauen Haar, die Serviette mit der goldenen Fünfzig glitt unbeachtet zu Boden. Wer von den Gästen gemeint hatte, der nächste Programmpunkt habe begonnen, begriff langsam, dass er sich irrte.
    Helder stellte die alten Schuhe auf die Sitzfläche des Stuhls, und die Gesellschaft verstummte. Stille. Nicht einmal eine Stecknadel wagte zu Boden zu fallen.

I
    Der Lavagänger ging vorüber. Unter seinen Schuhen riss der Asphalt. Kleine Flämmchen züngelten unter den Sohlen hervor. Sie hinterließen eine glühende Spur, die plötzlich aufbrach, einen Abgrund, und Helder fiel …
    Gegen fünf schreckte Helder aus seinem Traum. Er stand auf und schlurfte zur Toilette. Auf dem Weg zurück ins Bett veranlasste ihn ein unbestimmtes Gefühl, die Tür zum Badezimmer zu öffnen. Susanne lag reglos im dampfenden Wasser der Wanne.
    Was ist denn los?, fragte Helder verschlafen.
    Nichts!, sagte sie. Dann: Ich lag einfach wach. Der Termin heute.
    Unsicher, ob er von diesem Termin wissen müsse, gab er ein bestätigendes Brummen von sich. Er tappte ins Schlafzimmer zurück und wälzte sich noch eine knappe Stunde schlaflos im Bett.
    Wieder im Badezimmer, wischte er mit der rechten Hand dreimal quer über den Spiegel, auf dem sich Dampf niedergeschlagen hatte, und begann, sich zu rasieren. Susanne, einen Fuß auf den Wannenrand gestellt, lackierte gerade ihre Zehennägel, wie immer tiefrot. Sie redete. Er ließ sie reden und schabte mit dem Rasierer vorsichtig den Schaum von Hals und unterer Kinnpartie. Sein Kehlkopf ragte kühn hervor. Ein Grund mehr, zu schweigen und sich darauf zu konzentrieren, unverletzt zu bleiben. Immer geschickt die Gefahrenstellen umfahren.
    Das ist er, Helder, im Spiegel und auch davor: der Kehlkopf knorpelspitz. Die Nase ragt ihm im schmalen Winkel aus dem Gesicht. Das scharf Gezackte seiner Physiognomieund eine gewisse Sprunghaftigkeit erinnern an ein Heupferd. Seine Haare sind heufarben. Ein Wirbel oberhalb der rechten Schläfe lässt eine Haarsträhne über die Stirn tentakeln. Ein einzelner Fühler, vielleicht auf der Suche nach seinem Zwilling. Nachts, wenn er wieder einmal aus seinen Träumen schreckt, nennt sie
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